
Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

Wenn die Nacht zum Tag wird
Wie Weihnachten einen Monat lang
19:30 in Salt auf der Hammam Street. Normalerweise ist das Leben hier im vollen Gange. Die Gassen der historischen Markstraßen sind mit Menschen gefüllt und man hört so manchen Händler mit einem Kunden lauthals feilschen. Doch seit circa zwei Wochen sind um diese Zeit fast alle Läden geschlossen und man kann einmal quer über die Marktstraße blicken, weil die Gassen menschenleer sind.
22:30 in Salt auf der Hammam Street. Schon von weitem hört man, dass hier das Leben in vollem Gange ist. Die Gassen sind mit Menschen gefüllt und es herrscht ein reges Gedränge. Alle Läden haben offen und man hört so manchen Händler mit einem Kunden lauthals feilschen. Normalerweise ist um diese Zeit niemand mehr auf dem Markt unterwegs und die Gassen sind menschenleer.
Der Ramadan hat begonnen und die Nacht ist zum Tag geworden. Dieses Jahr dürfen sogar die Schüler bei mir am Institut das erste Mal fasten, weil der neue Direktor dies erlaubt. Für mich bedeutet dies aber auch einige Umstellungen.
Zum einen aber dürfen nicht alle Kinder fasten. Nur diejenigen, die über 14 Jahre alt sind, dürfen den Tag über nichts essen und trinken. Das heißt, dass sie zwischen Sonnenunter- und Sonnenaufgang etwas zu sich nehmen dürfen. Sobald der Muezzin also um 19:30 zum Gebet aufruft, ist Essen und Trinken erlaubt. Normalerweise gibt es bei mir am Institut aber um 18:00 Essen. Deshalb isst man sozusagen in zwei Gruppen. Die Kleineren um 18:00 und die Älteren um 19:30. Natürlich wollten auch einige der unter 14-jährigen fasten und weigerten sich zu Beginn des Ramadans zu essen. Da man ja niemanden zum Essen zwingen kann, mussten diese Kinder dann selber feststellen, dass sobald der Muezzin zum Abendgebet aufruft, sie nichts zum Essen kommen.
Aber warum dürfen denn eigentlich nicht alle fasten? Ist es nicht viel besser, wenn alle zusammen um 19:30 essen und diejenigen, die nicht fasten wollen, Frühstück und Mittagessen bekommen? Wir haben zurzeit wieder Prüfungsphase. Die Kinder lernen von morgens bis abends den ganzen Tag. Noch dazu ist es sehr heiß in Jordanien und ohne zu trinken würden die Kinder sich zum einen beim Lernen nicht konzentrieren können und zum anderen bei der Hitze eingehen. Also gibt es den Kompromiss, dass nur die etwas Älteren fasten dürfen.
Diejenigen, die fasten dürfen, essen zwei Mal am Tag. Einmal abends um 19:30 und um 3 Uhr morgens. Manchmal stehe ich morgens mit ihnen zusammen auf. Dies liegt aber manchmal auch daran, dass ich ja direkt neben den Schlafräumen der Kinder schlafe und oftmals mit aufwache, wenn die Älteren geweckt werden, was natürlich auch daran liegt, dass jemand ohne Gehör nicht immer daran denkt, dass es sehr laut sein kann, wenn man eine Türe zuschlägt.
Seit der Ramadan begonnen hat, wurden an manchen Straßen und auch hier im Institut Lichterketten mit Halbmonden und kleinen Lämpchen aufgehängt. Viele davon wurden von den Kindern im Kunstunterricht gebastelt und täglich fragt mich ein anderes Kind, welcher Halbmond denn der schönste sei.
Wenn man in der Mittagshitze auf den Straßen Salts unterwegs ist, sollte man nicht in aller Öffentlichkeit seine Trinkflasche herausnehmen und einen großen, erfrischenden Schluck Wasser trinken, wie mir von vielen Muslimen am Anfang des Ramadans gesagt wurde. Wenn man nämlich nicht fastet, sollte man zumindest seinen Mitmenschen gegenüber Solidarität zeigen. Vielleicht wird einem sogar unterstellt, dass durch das eigene Trinken die Menschen in der Umgebung auch zum Trinken verlockt werden, was bei dieser Hitze schon möglich ist. Deshalb kann es zu Pöbeleien und Beleidigungen kommen. Man sollte also nicht in der Öffentlichkeit trinken und essen.
Zurzeit gibt es abends auch oftmals Festessen, die von Mitarbeitern und etwas reicheren Bürgern Salts gezahlt werden. Während des Ramadans wird die Regel, dass man den Armen und Beeinträchtigten helfen soll, nämlich ziemlich großgeschrieben. Da alle Kinder bei mir am Institut taub sind und viele davon auch aus armen Familien kommen, wird oft ein gutes Essen bereitgestellt. Meistens gibt es das traditionell jordanische Mansaf oder Kabsa. Mansaf ist Lammfleisch mit Reis und Kabsa ist Hühnchen mit Reis. Nach dem Essen gibt es meistens noch eine Süßspeise namens Katajef. Katajef sind kleine zusammengefaltete Pfannkuchen mit einer Füllung, die aus süßem Käse besteht. Die Kinder lieben diese Festessen und sind unglaublich glücklich, wenn sie mit vollen Bauch in die Schlafräume zurückstapfen. Ich muss abends dann einen Eimer vor dem ein oder anderen Bett aufstellen, da die Gefahr, dass man zu viel gegessen hat, doch relativ groß ist.
Schon bevor der Ramadan begonnen hat, haben viele der Kinder angefangen zu beten. Von zu Hause wurden Gebetsteppiche mitgebracht und zu bestimmten Zeiten lehrten die Älteren die Jüngeren den genauen Ablauf des Betens (wie oft man sich hinknien muss, wann man aufsteht usw…). Seitdem hängen auch überall im Internat kleine Zettelchen, auf denen Koranverse stehen. Diese werde von den Kindern während des Betens still im Kopf wiederholt. Problematisch ist dabei aber, dass viele der Kinder über dem Beten ihre Pflichten vergessen. So wird die Wäsche nicht mehr aufgeräumt und oftmals wird das Zähneputzen auch vergessen.
Leider wird Beten auch als Ausrede verwendet, um bestimmte Pflichten zu umgehen. Zum Beispiel hat ein Junge während meiner Pausenhofaufsicht mehrmals andere Kinder gehänselt und auch geschlagen. Also wollte ich ihn abends die Wäsche zusammenlegen lassen. Der Junge wusste genau, was auf ihn zukommt und hat eine Ewigkeit abends „gebetet“, um die Strafe zu umgehen. Auch als alle anderen schon fertig waren, hat er einfach weiter gemacht und wohl gehofft, dass ich vergesse ihm eine Aufgabe zu geben. Irgendwann war ich mit meiner Geduld am Ende und habe ihm gebärdet, dass er so lange beten kann wie er will, jedoch werden sich die Kleider nicht von alleine zusammenlegen. Daraufhin hat er sofort seinen Gebetsteppich zusammengerollt und angefangen, die Schulkleidung der Kinder zusammenzufalten. Leider war dies kein Einzelfall und ich bin ein wenig froh, dass sich der anfänglichen Gebetseifer in der Zwischenzeit wieder gelegt hat.
Außerdem lebten die Kinder vor allem zu Beginn des Ramadans plötzlich nach vielen Regeln, die anscheinend so im Koran stehen, wie sie mir erklärten. Eines schönen morgens zum Beispiel, als ich schon vor dem Essen bei der Aufsicht war, habe ich aus Versehen eine Ameise zertreten. Daraufhin haben mich sofort mehrere Kinder darauf aufmerksam gemacht und gemeint, dass dies "haram" sei. Auf meine Frage warum, wurde mir geantwortet, dass ich ja nie wissen kann, ob ich in einem anderen Leben oder in der Hölle mal ganz klein sein werde und die Ameise plötzlich riesengroß wird. Aus diesem Grund solle man immer auf seine Umgebung Acht geben und niemandem Schaden zufügen. Daraufhin fragte ich aber, ob sie die Ameisen denn am Leben lassen würden, wenn plötzlich ganz viele von ihnen all unser Essen wegessen würden. Wenn wir nur stumm zugucken, würden wir verhungern. "Allah kareem", Gott sorgt, war die Gebärde, die sie mir als Antwort gaben. Alles, was passiert, ist von Gott so gewollt und, wenn man ein guter Muslim ist, wird Gott immer für einen sorgen. Fünf Minuten später haben manche aber schon wieder angefangen sich gegenseitig zu hänseln und aufgehört auf ihre Umgebung Acht zugeben.
Lichterketten, gutes Essen und alle sind glücklich. Irgendwie erinnert mich der Ramadan in Jordanien stark an Weihnachten in Deutschland. Nur, dass dieses Ereignis einen Monat lang geht. Viele der Kinder erzählten mir auch, dass nachts, wenn Essen und Trinken erlaubt ist, manchmal ihre ganze Familie zusammenkommt und alle die friedliche Gemeinschaft genießen. Auch dies kann man mit den traditionellen Besuchen bei Oma, Opa, Tante und Onkel an Weihnachten bei uns vergleichen.
Die Hauptsache am Ramadan sind aber nicht die Geschenke. Meiner Meinung nach ist es das Zusammenkommen und die Gemeinschaft, die man am besten bei einem guten Essen genießen kann. Zudem haben alle auch eine gemeinsame Herausforderung zu bestehen. Nämlich tagsüber nicht zu essen und zu trinken. Allerdings erlebe ich den Ramadan bei mir am Institut auch so, dass es in erster Linie nicht darum geht, ein guter Muslim zu sein. Viel mehr herrscht ein ziemlicher Druck auf manchen der Kinder, weil ihnen von anderen Kindern gesagt wird, dass wenn sie ihr Fasten brechen, sie in die Hölle kommen. Dennoch gefällt mir die Idee des Miteinanders und der Gemeinschaft sehr. Dadurch ist es dann auch nicht weiter schlimm, wenn ich um 3 Uhr nachts mal wieder von einer zugeschlagenen Tür geweckt werde, weil ich gemütlich im Schlafanzug einen Tee trinken kann, während alle um mich herum glücklich am Essen sind und gemeinsam den Tag willkommen heißen.

