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14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Ein Blick von der TSS auf das "Schneller-Camp" (Foto: EMS/Knapmeyer)
Ein Blick von der TSS auf das "Schneller-Camp" (Foto: EMS/Knapmeyer)
20. Mai 2018

"Ich komme aus Palästina"

Annika

Annika

Jordanien
arbeitet in der Theodor-Schneller-Schule mit
zur Übersichtsseite

Heute ein etwas längerer Beitrag..

Liebe Leserinnen und Leser,

den meisten von euch/Ihnen ist sicherlich bekannt, dass Jordanien in der Vergangenheit viele Geflüchtete, besonders aus Syrien, aufgenommen hat. Heute möchte ich jedoch über eine andere wichtige Bevölkerungsgruppe in Jordanien schreiben. Bevor ich nach Jordanien kam, war mir gar nicht bewusst, dass Palästinenserinnen und Palästinenser einen großen Teil der Bevölkerung ausmachen.

Ich möchte darüber informieren, warum es Geflüchtete aus Palästina in Jordanien gibt und wie ich die „Palästinensische Identität“ im Alltag spüre.

 

In den Jahren 1948/1949 wurde das Westjordanland (Westbank) und Ostjerusalem von arabischen Truppen während des israelischen Unabhängigkeitskrieges besetzt. Später wurden diese Gebiete mit Transjordanien (Ostjordanland) zum „Haschemitischen Königreich Jordanien“ vereinigt. Vom Königreich wurde eine erste Welle von circa 506.200 Flüchtlingen aufgenommen.

Später wurden circa 390.000 palästinensische Geflüchtete und Vertriebene aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen von Jordanien aufgenommen. Grund dafür war der Sechstagekrieg 1967 zwischen Israel und Staaten wie Ägypten, Syrien und unter anderem auch Jordanien. Dabei zerstörte Israel die gesamte Luftwaffe Jordaniens und eroberte die Westbank und Ostjerusalem.

Im Jahr 1991 wurden weitere 300.000 palästinensische Geflüchtete während des Zweiten Golfkrieges aufgenommen.

Zuerst glaubte man, dass der Aufenthalt in Jordanien für die palästinensischen Geflüchteten nur eine kurze Zeit andauern würde. Dies wurde im Laufe der Zeit aufgrund des andauernden Israel-Palästina-Konflikts immer unwahrscheinlicher.

Jordanien konnte die palästinensische Bevölkerungsgruppe weitgehend in die jordanische Gesellschaft integrieren. Es gibt/gab wenige Restriktionen für palästinensische Geflüchtete. So haben diese zum Beispiel das Recht ein Flüchtlingscamp zu verlassen und sich außerhalb anzusiedeln. Die Mehrheit der Palästinenserinnen, Palästinenser und deren Nachkommen besitzen die jordanische Staatsbürgerschaft. Heute beträgt ihr Bevölkerungsanteil in Jordanien 50 Prozent.

Trotzdem war und ist es vielen arabischen Staaten wichtig, den Konflikt und die Situation der palästinensischen Geflüchteten nicht hinzunehmen. Auch für viele Palästinenserinnen und Palästinenser besteht immer noch Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimat.

Im Jahr 1949 wurde UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, gegründet. Das Mandat der Flüchtlingshilfeorganisation wird ständig verlängert. Heute ist das UNRWA hauptsächlich im schulischen Sektor aktiv.

Die Theodor-Schneller-Schule, auf deren Gelände ich lebe, liegt im Großraum Amman/Zarqa. Dort liegt der Bevölkerungsanteil der palästinensischen Geflüchteten und ihren Nachkommen bei 90-99 Prozent.

Wenn ich nicht darauf achtete, fiel mir dieser Anteil nicht auf. Während meines Zwischenseminars in Jerusalem beschäftigten wir uns unter anderem auch mit dem Israel –Palästina Konflikt. Ich lernte einige Palästina-Freiwillige kennen und machte auch einen Ausflug in die Westbank nach Bethlehem. Nach meiner Rückkehr fielen mir in meinem Alltag doch einige Dinge auf, die unmittelbar mit dem Israel- Palästina Konflikt zu tun hatten. Auf einmal wurden für mich viele Dinge präsent und aktuell.

Zum einen begann ich mich mit dem „Schneller-Camp“ direkt neben dem Gelände der Theodor-Schneller-Schule auseinanderzusetzen. Es handelt sich hierbei um eine Siedlung, deren Häuser nah aneinander gebaut wurden und die dicht bevölkert ist. In Vergangenheit wurden mir von verschiedenen Bekannten abgeraten einen Fuß in das Gebiet des Schneller-Camps zu setzen. Weil es mich doch sehr beschäftigte, beobachtete ich die Siedlung  von der Theodor- Schneller- Schule genauer. Von der Schule ist die Siedlung mit einer kleinen Mauer getrennt. Es ist absurd, wenn man sich die eng gebauten Häuser anschaut und dann die riesigen unbebauten Flächen der Theodor-Schneller-Schule betrachtet. Manchmal frage ich mich, ob man nicht ein bisschen Gebiet der Schule verkaufen könnte, um mehr Häuser für Menschen zu bauen.

Während des Sonnenuntergangs ist der Blick auf das Schneller Camp sehr schön. Ich lausche dann den Muezzins aus den Lautsprechern der Moscheen. Ich beobachte, wie die Fahne des UNRWA über einer Schule weht. Wie Schafe, begleitet mit ihrem Hirten, das weite Gelände abgrasen. Wie Kinder ihren Drachen steigen lassen und spielen. Mich entspannt das irgendwie.

Eines Tages begann ich mit David und Lisann in Richtung des Schneller Camps zu laufen. Und siehe da, an einer dicht befahrenen Straße fanden wir den besten Falafelladen! Für mich ist es jedes Mal ein Erlebnis die andere, durch eine Mauer getrennte Seite kennenzulernen. (In dem „richtigen“ Viertel war ich allerdings noch nicht.)

Von der Website des UNRWA erfuhr ich, dass das Schneller-Camp eines von zehn palästinensischen Camps in Jordanien sei. Es wurde 1968, also nach dem Sechstagekrieg, aufgebaut und war damals hauptsächlich von Flüchtlingen aus dem Gaza-Streifen besiedelt. Heute leben dort 53.000 registrierte Geflüchtete bzw. deren Nachkommen. Das UNRWA ist für zehn Schulen und ein Gesundheitszentrum zuständig.

Und meine Entdeckungsreise ging weiter. In einem Klassenraum der Schneller-Schule entdeckte ich letztens einen riesengroßen Schlüssel, der mit einem Tuch aus einem für Palästina bekannten weiß-schwarzen Stoff umspannt worden ist. Manche Palästinenserinnen und Palästinenser besitzen immer noch die Schlüssel ihrer damaligen Häuser. Dabei steht das Schlüsselsymbol für das gewünschte Rückkehrrecht der Palästinenserinnen und Palästinenser in ihre Heimat. Es drückt Sehnsucht und Melancholie aus. Vielleicht auch Erinnerungen an das eigene Haus, den Garten und die Nachbarschaft.

Das für mich Offensichtlichste ist jedoch der Austausch mit Menschen, die sich als Palästinenserinnen und Palästinenser sehen. David und ich geben seit ein paar Wochen Deutschunterricht für die Klassen 7 bis 10 nach dem Unterricht. Wir fragten jeden von unseren Schülerinnen und Schülern aus welchem Land er/sie komme. Erwartet haben wir eigentlich „Ich komme aus Jordanien“. Doch wir hörten auch „Ich komme aus Palästina“. Und das war nicht die einzige Begegnung mit dieser Identitätsfrage. Manche Taxifahrer erzählten uns, dass sie aus Palästina kommen würden. Oft sind sie dort nicht geboren, aber sie identifizieren sich mit Palästina und sehen sich als Palästinenserin oder Palästinenser.

Mir war es wichtig noch persönlicher mit jemandem zu sprechen. So fragte ich meinen Deutschschüler Dia’a (16 Jahre), ob er mir etwas über seine palästinensische Identität erzählen könnte. Seine Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits stammen aus Palästina, einmal aus Nablus und aus einem etwas kleinerem Ort. Sie kamen vor dem Sechstagekrieg nach Jordanien. Sein Großvater hatte einen Goldladen, den er verließ. Als er später zurückkam, um sich umzusehen, gab es ihn nicht mehr. Auf die Frage, ob Dia’a sich vorstellen könnte, dass es Frieden zwischen Israelis und Palästinensern gibt, antwortete er: „I can’t say we can make peace and let’s forget everything when someone comes to your house and destroys everything!” Er würde keinen Israeli verurteilen, aber die Politik der israelischen Regierung ist für ihn nicht akzeptabel. Wenn er Präsident von Palästina wäre, würde er mehr Rechte für Palästinenserinnen und Palästinenser einfordern. „It’s my country, it’s an important point in the Middle East.“

Für mich war es interessant zu erfahren, wieso er sich als Palästinenser sieht, und nicht als Jordanier, obwohl seine Eltern und er in Jordanien geboren und aufgewachsen sind. Dazu meinte er: „Palestine and Jordan were one country, there is no difference for me.“

Zuletzt fragte ich, ob er gerne mal nach Palästina reisen möchte und wohin (er kann es wegen seiner jordanischen Nationalität nicht): „I would go to Al-Quds (Jerusalem) and see what is happening there.“

Ich denke, dass viele der in Jordanien lebenden Palästinenserinnen und Palästinenser ähnlich denken wie Dia’a. Sehnsucht, die Familiengeschichte, Traditionen, viel Schmerz und Stolz schwingen mit, die an die darauffolgenden Generationen weitergegeben werden.

All diese Entdeckungen und die Recherchen machen für mich Jordanien interessant. Diese verschiedenen Nationalitäten, die gemeinsam in einem Land leben. Ich betrachte Jordanien mit offenen Augen und erkenne dann kleine Details, die doch einen Unterschied machen.

Liebe Grüße

Annika

 

PS: Sollte euch das Thema, wie mich, gepackt haben: Hier gibt es noch ein paar Quellen, woher ich meine Informationen habe:

Wil Tondok: Jordanien; erschienen im Reise Know-How Verlag, München, 7. Auflage 2016/2017

Zu Jordaniens Flüchtlingspolitik: www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/230891/fluechtlingspolitik (18.04.18)

Zum Schneller-Camp: www.unrwa.org/where-we-work/jordan/marka-camp (18.04.18)

Zum Schlüsselsymbol: www.arendt-art.de/deutsch/palestina/texte/Schluessel_der_heimkehr.htm (18.04.18)

Zum Felsendom: www.faz.net/aktuell/feuilleton/familie/wie-erklaere-ich-s-meinem-kind/jerusalem-warum-ist-der-tempelberg-so-wichtig-15124918.html (18.04.18)

Dokutipp: „Disturbing the Peace“, ein Film der Hoffnung auf Versöhnung macht!

Danke an Dia’a für seine Zeit meine Fragen zu beantworten!

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Ein Schlüssel in einem Klassenzimmer, umspannt mit einem bekannten palästinensischen Stoff (Foto: EMS/Knapmeyer)
Ein Schlüssel in einem Klassenzimmer, umspannt mit einem bekannten palästinensischen Stoff (Foto: EMS/Knapmeyer)
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Der Felsendom in Jerusalem bei unserem Besuch im Februar (Foto: EMS/Knapmeyer)
Der Felsendom in Jerusalem bei unserem Besuch im Februar (Foto: EMS/Knapmeyer)