Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)
Wenn mich jemand fragt, wie es denn in Indien so ist, dann antworte ich inzwischen ganz gerne mit „anders“. Auch wenn das vermutlich nicht die Antwort ist, die mein Gegenüber hören möchte, so ist es doch die, die am besten zutrifft. Hier ist es anders. Und mit hier meine ich nicht Indien, dieses riesige Land, das sogar ein Subkontinent ist und von dem ich bisher nur einen winzigen Bruchteil gesehen habe. Mit hier meine ich hier in Nandyal, in dem kleinen bescheidenen Boarding Home, in dem ich momentan lebe.
Aber was meine ich denn nun mit anders? Ist es so schlimm? Nein, im Gegenteil, mir gefällt es richtig gut hier. Aber es ist eben anders. Anders als zu Hause, anders als meine Erwartungen, anders als gedacht. Zunächst völlig wertungsfrei. Bestes Beispiel und zweithäufigste Frage zu meiner Zeit hier: „Na wie ist das denn so mit dem Essen?“
----- Immer nur Reis und Gemüse? -----
Das Essen. Ja, auch das ist anders. Mein eigenes Vorwissen und auch die Berichte der ehemaligen Indien-Freiwilligen hatten mich bereits darauf vorbereitet, dass es viel Reis gibt. Eigentlich nur Reis. Mit Gemüse. Und immer sehr, sehr scharf. Das war die Erwartung, mit der ich hierhergekommen bin. Und wie ist es nun wirklich?
Zum Frühstück gibt es oft gewürzten Reis (mit Kümmel, Nelken, Nüssen, …), citrannam (Zitronenreis) oder Upma (ähnlich wie CousCous). Dazu gibt es meistens Chutney aus Erdnüssen, Tomaten oder einfach ein Erdnuss-Chillipulver. Zum Mittagessen gibt es dann „normalen“ weißen Reis mit Dal (eine Art Linseneintopf), das je nach verfügbarem Gemüse und Linsenart auch wieder auf verschiedene Arten zubereitet werden kann. Zusätzlich (quasi als Nachtisch) gibt es immer Kurt-Reis, also Reis mit Jogurt oder manchmal auch Buttermilch. Abends gibt es zum Reis dann Rasam (rote Soße mit Gemüse) oder Curry, was hier einfach die Bezeichnung für jegliches gewürzte und angebratene Gemüse ist, was natürlich auch je nach verwendetem Gemüse immer anders schmeckt. Mittwochs gibt es meistens noch ein gekochtes Ei zum Abendessen und sonntags gibt es Hähnchencurry (beziehungsweise für mich als Vegetarier nochmal Ei).
Also rein technisch betrachtet schon vor allem Reis und Gemüse. Nur können diese beiden Worte niemals der Vielfalt an Gerichten gerecht werden, die damit eigentlich gemeint ist. Das ist ein bisschen so, als wenn man morgens ein Croissant, mittags eine Pizza und abends ein Käsebaguette isst, um dann zu sagen, man isst den ganzen Tag nur Brot.
Da ich auch manchmal bei Bhagya esse, komme ich statt Reis gelegentlich in den Genuss von Dosa (Reispfannkuchen) zum Frühstück und Chapati (dünnes Fladenbrot) zum Abendessen. Nachmittags, wenn die Kinder von der Schule kommen, gibt es oft einen kleinen Snack, meistens Obst (Bananen oder Äpfel) oder gekochte Kichererbsen/Nüsse. Abgesehen von diesen Nachmittagssnacks ist das Essen übrigens wirklich meistens relativ scharf, aber irgendwie stört mich das viel weniger als ich das erwartet hatte.
Anders ist auch die Art und Weise, wie man isst, nämlich mit der rechten Hand. Nur mit der rechten Hand. Ohne Besteck und andere Hilfsmittel. Was tendenziell gar nicht so schwer ist, auch wenn ich das vermutlich niemals so elegant hinbekommen werde, wie die Mädchen hier. Abgesehen davon, dass man außer seinem Teller kein Geschirr abwaschen muss, hat es außerdem noch den Vorteil, dass man sich, wenn das Essen noch zu heiß ist, nicht den Mund verbrennt, sondern stattdessen die Finger. Den Mund verbrenne ich mir dafür immer noch regelmäßig am Tee, der hier auch wieder anders, nämlich mit viel (warmer) Mich und sehr viel Zucker zubereitet und aus kleinen Espresso-Bechern getrunken wird.
Vieles von dem, was mir am Anfang so anders erschien, ist inzwischen zur Normalität geworden. Während am Anfang noch jedes Essen neu und aufregend war, habe ich inzwischen ganz klar so einige Lieblingsgerichte und auch ein oder zwei Sachen, die ich weniger gern mag. Ob das Essen hier besser ist als das Essen in Deutschland? Das kommt also ganz eindeutig darauf an, welches Essen hier und welches Essen in Deutschland gemeint sind.
---- Religion als Teil des Alltags ----
Aber auch abgesehen vom Essen gibt es hier mehr als genug Dinge, die anders sind. Sehr groß ist der Unterschied zu meinem Leben in Deutschland, wenn es um das Thema Religion und Glaube geht. Mein Glaube ist mir schon immer sehr wichtig und ich war in Deutschland eigentlich fast immer irgendwo Teil einer Gemeinde, in die ich mich auch aktiv eingebracht habe. Außerhalb davon hat das Thema aber selten eine Rolle gespielt.
Das ist hier anders. Hier beginnt jeder Tag um halb sieben mit dem Morning Prayer in der Kirche, bei dem eine halbe Stunde lang Bibel gelesen und gebetet wird. Vor und nach jedem Essen werden gemeinsam Gebete gesungen. Bevor die Mädchen in die Schule gehen, beten sie. Abends um halb sieben ist dann Evening Prayer, bei dem viel gesungen und wieder Bibel gelesen und gebetet wird. Vor dem Schlafengehen wird ebenfalls nochmal gemeinsam gebetet. Sonntags wird jede Woche der Gottesdienst beziehungsweise die Sunday School besucht.
Auch der Gottesdienst hier ist anders als ich das kenne. Erster Unterschied ist auf jeden Fall schon einmal der Gottesdienstbeginn um sieben Uhr morgens, was deutlich früher ist als ich das aus Deutschland gewöhnt bin. Eigentlich dauert der Gottesdienst hier drei Stunden, aber viele kommen später oder gehen eher. Trotzdem ist der Gottesdienst mit knapp 2000 Menschen sehr gut besucht. Dafür reicht die relativ kleine Kathedrale, in der man nach Geschlechtern getrennt auf dem Boden sitzt, nicht aus. Daher werden jeden Sonntag rund um die Kathedrale hunderte von Stühlen aufgestellt, Matten ausgelegt und der komplette Gottesdienst über Lautsprecher nach draußen übertragen. Was den Ablauf des Gottesdienstes angeht, unterscheidet sich der überraschend wenig von der Liturgie, die ich aus Deutschland kenne. Die zentralen Elemente sind ähnlich, aber durch die hohe Anzahl der Gottesdienstbesucher dauern die einzelnen Teile deutlich länger (allein das Abendmahl fast eine Stunde).
Jetzt haben die Mädchen natürlich selbst nicht so richtig viel Einfluss darauf, wie der Tag im Boarding Home so abläuft. Aber auch außerhalb dieser mehr oder weniger vorgeschriebenen Zeiten dreht sich viel um Religion und Glaube. Wenn jemand Geburtstag hat, krank ist, Examen anstehen, es familiäre Probleme gibt oder irgendetwas anderes vorgefallen ist, bitten mich die Mädchen regelmäßig darum, für sie oder ihre Familien zu beten. Freitagabends ist hier immer Jugendgottesdienst und fast alle der älteren Mädchen gehen regelmäßig dorthin. Allgemein ist Religion, Glaube und Kirche für viele Mädchen ein beliebtes Gesprächsthema. Was ist deine Lieblingsgeschichte in der Bibel/ im alten Testament/ im neuen Testament? Wie läuft ein Gottesdienst in Deutschland ab? Welche Bibelstelle hast du heute gelesen? Das alles sind Fragen, die ich fast täglich beantworte.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es für die Mädchen kein Problem wäre, wenn ich an etwas anderes glauben würde als sie (vermutlich würden sie dazu nur noch mehr Fragen stellen). Dass verschiedene Religionen nebeneinander her existieren, ist hier völlig selbstverständlich. Manche der Mädchen im Boarding Home kommen aus Hindu-Familien und vielen der Mädchen sind die Geschichten aus dem Hinduismus ähnlich gut bekannt wie die Bibelgeschichten. An einigen Stellen mischen sich auch die Bräuche und Traditionen.
Dass der Umgang mit Glaube und Kirche ein anderer ist, als ich das gewöhnt bin, zeigt sich oft an vermeintlich unscheinbaren Kleinigkeiten. Auf der Straße findet man zum Beispiel kaum ein Fahrzeug, welches nicht schon von außen auf die Religion des Inhabers schließen lässt. Auf christlichen Motorrollern, Autos, Rikshas und Co prangen diverse Bibelsprüche, „Jesus loves you“ und “God’s Gift”-Aufkleber. Da kann mein kleiner Fisch-Aufkleber auf meinem Auto in Deutschland nicht mithalten. Ein weiteres Beispiel ist die Statusfunktion in WhatsApp, die fast alle meiner indischen Freunde und Bekannten dazu nutzen, täglich Bibelverse und ihre persönlichen Gedanken dazu zu teilen. Auch das kenne ich aus Deutschland so nicht.
---- Und was ist noch alles anders? ----
Da gibt es sicherlich genug. Den anderen Tagesablauf habe ich euch ja schon im letzten Eintrag geschildert. Anders ist auch die Sprache (nämlich Telugu), in der ich zwar schon ganz schöne Fortschritte gemacht habe, die aber noch lange nicht ausreichen, um sich vernünftig zu unterhalten. Anders sind ganz alltägliche Dinge wie Duschen oder Wäsche waschen. Anders ist die Art und Weise, wie Schule und Lernen funktioniert. Anders ist das Wetter, anders sind die Tiere, anders ist das Zeitverständnis, anders ist die Art, wie Dinge erledigt werden. Vieles davon werde ich euch bestimmt in zukünftigen Blogeinträgen noch ausführlicher erklären.
In den Vorbereitungsseminaren haben wir viel darüber geredet, dass man zunächst einmal offen gegenüber allem sein soll und nicht gleich alles werten soll. Das klingt in der Theorie schön einfach, ist es in der Praxis aber nicht immer. Manchmal schaltet der Kopf sehr schnell in den „Aber so würde das doch viel schneller/ besser/ schöner gehen“-Modus ohne zu hinterfragen, ob es nicht vielleicht unter den gegebenen Umständen gar nicht anders geht oder es vielleicht sogar gar nicht immer darum geht, die Dinge schneller, besser und schöner zu machen. Ich hoffe, dass mein Blog ein bisschen dabei helfen kann, genau das zu vermitteln und zu zeigen, dass „anders“ manchmal auch einfach „anders“ bedeuten kann, ohne dass irgendwo ein „besser“ oder „schlechter“ mitschwingt.