Weltweit erlebt
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14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Ein Willkommensgruß an die Gäste der Weihnachtsfeier - von den Mädchen mit Farbpulver "gemalt" (Foto: EMS/Osenberg)
Ein Willkommensgruß an die Gäste der Weihnachtsfeier - von den Mädchen mit Farbpulver "gemalt" (Foto: EMS/Osenberg)
14. Januar 2020

Silent Night?

Sarah

Sarah

Indien
unterstützt ein Mädchenheim
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Kleiner Zeitsprung. Kurz nach Mitternacht am 1.Januar 2019. In meinen dicken Wintermantel gewickelt, stehe ich bibbernd in der Kälte und beobachte das Feuerwerk am Himmel über mir. Für einen kurzen Moment überlege ich, was wohl nächstes Jahr um diese Zeit sein wird. Ob ich wirklich in Indien sein werde und wie es dort sein wird. Von den Freiwilligen der Vorjahre weiß ich, dass sie Silvester meist gemeinsam in Goa am Strand gefeiert haben. Ob ich das wohl auch tun werde?

Zurück in der Gegenwart. Kurz nach Mitternacht am 1.Januar 2020. Ich stehe barfuß im Sand und schaue in den Himmel, wo gerade die Feuerwerksraketen kunterbunte Muster zeichnen. Die Lichter des Feuerwerks spiegeln sich im Meer wider. Von Zeit zu Zeit werden meine Füße von ein paar Wellen umspült. Das stört mich aber nicht, denn obwohl es wortwörtlich mitten in der Nacht ist, liegen die Temperaturen noch bei deutlich über 20 Grad und auch das Wasser ist nicht wesentlich kälter. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken.

Da ist es also, das neue Jahr. Ein bisschen fühlt es sich noch immer so an, als wäre ich erst seit ein paar Wochen in Indien. Dabei sind es inzwischen schon vier Monate. Irgendwie hatte ich erwartet, dass sich dieser Moment anders anfühlt. In meinem Kopf war Silvester immer ein großer Meilenstein. Wenn Weihnachten und Silvester erst einmal vorbei sind, dann … Ja, was dann? Dann bin ich lange genug hier, um als Indien-erfahren zu gelten? Dann habe ich hier alles durchschaut und verstanden?

Eigentlich sollte es mich nicht überraschen, dass das Datum auf dem Kalender mich nicht zu einem anderen Menschen macht. Ich bin nicht von einem Tag auf den anderen zum erfahrenen Indien-Reisenden geworden. Nach wie vor schafft es dieses Land fast täglich, mich in einem Moment zum Verzweifeln und im nächsten Moment zum Lachen zu bringen, um mich direkt darauf wieder komplett zu überraschen. Niemals würde ich mir anmaßen zu sagen, ich kenne mich jetzt hier aus und weiß wie die Dinge funktionieren. Das wird wohl auch nach zehn Monaten nicht der Fall sein.

Nichtsdestotrotz habe ich hier bisher aber schon richtig viel erleben dürfen, wovon ich euch auch als Nicht-Expertin berichten kann. Wenig überraschend war der Dezember wie auch in Deutschland hauptsächlich von einem Thema bestimmt: Weihnachten. Schon bevor ich nach Indien gekommen bin, war ich sehr gespannt auf die Weihnachtszeit hier. Weihnachten bei 30 Grad? Ohne Lebkuchen, Plätzchen und Weihnachtsmärkte? Wie sich das wohl anfühlt?

Bereits Mitte November begannen die ersten Vorbereitungen für die Weihnachtsfeier in unserem Boarding Home. Zur Feier selbst sollten mehrere Tänze aufgeführt werden und die wollten natürlich auch alle einstudiert und geprobt werden. Auch ich wurde damit beauftragt, mit ein paar Mädchen einen „deutschen“ Tanz einzuüben. Außerdem haben wir ein kleines Krippenspiel auf Englisch vorbereitet. Fast jeden Abend gab es dementsprechend Proben für die verschiedenen Tänze oder das Krippenspiel und die meisten der Mädchen waren sehr eifrig bei der Sache. Ganz begeistert waren die Mädchen von meinen Fröbelsternen, so dass wir – wenn wir nicht gerade mit Tanz- oder Krippenspielproben beschäftigt waren – noch eine Art Fröbelstern-Falt-AG gegründet haben.

Im Boarding Home (und ich glaube auch darüber hinaus) ist es üblich, dass die Mädchen für Weihnachten ein neues Kleid bekommen und so hat Bhagya fast jeden Tag Kleider gekauft, von denen sich dann jedes Mädchen eines aussuchen durfte. Ich habe ebenfalls einen neuen Saree bekommen, was mich sehr gefreut hat. Auch das Boarding Home selbst wurde Anfang Dezember einmal komplett neu gestrichen, was hier wohl jedes Jahr passiert.

Mitte Dezember war es dann so weit und der Tag der großen Weihnachtsfeier gekommen. Bereits früh am Morgen wurden alle möglichen Dinge angeliefert – Stühle, ein Baldachin, Holz fürs Feuer (zum Kochen), riesige Kochtöpfe, Zutaten fürs Essen, und, und, und. Vormittags wurde im Innenhof alles aufgebaut und das ganze Hostel mit bunten Girlanden und Lichterketten geschmückt. Vor dem Eingang haben die Mädchen mit Farbpulver ein kleines Kunstwerk geschaffen, um die Gäste willkommen zu heißen. Es gab sogar einen kleinen (Plastik)Tannenbaum, den wir kurzerhand mit unseren gefalteten Fröbelsternen geschmückt haben.

Abends haben sich dann alle Mädchen, die keinen „Bühnenpart“ hatten, ihre neuen Kleider angezogen. Für das Krippenspiel hatten wir uns in den Tagen zuvor überlegt, welche Kostüme die Mädchen denn tragen und woraus man diese denn „herstellen“ könnte. Da die Mädchen das nicht zum ersten Mal gemacht haben, hatten sie für alles eine gute Idee und das Endergebnis hat sich wirklich sehen lassen. Für mich war es jedenfalls sehr faszinierend zu sehen, auf wie viele verschiedene Art und Weisen sich Sarees (die durften wir uns netterweise von Bhagya leihen) als Kostüme zweckentfremden lassen.

Die Weihnachtsfeier hat zusammen mit dem Boys Hostel in Nandyal stattgefunden und als Ehrengast war die Bischöfin von Nandyal eingeladen. Nachdem alle Gäste eingetroffen waren, begann die Feier mit ein paar Liedern, Gebeten, einer Andacht und Grußworten der Ehrengäste. Dann waren die Kinder an der Reihe. Besonders vor dem Krippenspiel waren die Mädchen wirklich aufgeregt. Zum Glück hat aber alles sehr gut geklappt und es gab von allen Seiten großes Lob. Anschließend an die Function gab es dann für alle Gäste noch Essen, wir haben aufgeräumt und dann war der große Tag auch schon vorbei.

Im Laufe der Woche gab es dann noch verschiedenste Weihnachtsfeiern (z.B. von der Sunday School, den Schulen/Colleges, …) die vom Ablauf her jedes Mal ähnlich waren. Am Ende jeder Function wurde jeweils der Christmas Cake angeschnitten. Das ist allerdings kein besonderer weihnachtlicher Kuchen, sondern eher eine Geburtstagstorte, auf der statt „Happy Birthday“ eben „Happy Christmas“ steht. Der jeweilige Ehrengast darf die Kerzen ausblasen, die Torte anschneiden und die anderen Gäste „füttern“ beziehungsweise wird dann auch zurückgefüttert. Anschließend daran gibt es dann den Candlelight Service. Dafür werden an alle Gäste Kerzen verteilt und der Ehrengast zündet seine Kerze an, gibt das Licht weiter an seine Nachbarn und die dann wieder weiter, so dass am Ende alle Kerzen brennen. Während der ganzen Zeit wird gesungen. Dabei ist jedes Mal eine sehr festliche Stimmung entstanden, was ich persönlich sehr schön fand.

Besonders gut gefallen hat mir der Carol and Candle Light Service in der Kirche. Anders als bei den Weihnachtsfeiern gab es kein Programm (und auch keinen Christmas Cake), sondern es war eher ein Chorkonzert zum Mitsingen. Für mich war das auch deshalb sehr schön, weil die Lieder immer Englisch und Telugu im Wechsel waren. Denn auch wenn ich Telugu inzwischen ganz gut lesen und dadurch auch recht problemlos mitsingen kann, war es trotzdem eine nette Abwechslung, auch mal ein paar bekannte Weihnachtslieder zu singen.

Anders als in Deutschland wird Weihnachten in Indien nicht am 24.Dezember, sondern erst am 25.Dezember gefeiert. Da die Mädchen aber alle über die Feiertage zu ihren Familien gefahren sind und das Boarding Home dementsprechend geschlossen war, habe ich das „richtige“ Weihnachten gar nicht in Nandyal verbracht. Stattdessen bin ich am 22.Dezember nach Goa gefahren, wo ich mich mit Magdalena (meiner Mitfreiwilligen aus Khammam) getroffen habe. Dort haben wir die Weihnachtsfeiertage fast ausschließlich am Strand verbracht, was sich zwar nicht besonders weihnachtlich angefühlt hat, aber definitiv eine sehr schöne Alternative dargestellt hat.

Wie ich schon in meinen vorherigen Blogeinträgen festgestellt habe, sind die Dinge hier einfach anders und das ist mir an Weihnachten noch einmal ganz besonders aufgefallen. Tänze und Partystimmung statt Ruhe und Besinnlichkeit. Christmas Cake statt Lebkuchen. Christmas Dress statt Weihnachtsgeschenken. Deshalb war es aber nicht mehr oder weniger weihnachtlich, als es das in Deutschland ist. Ich persönlich bin sehr froh, die Weihnachtszeit in Nandyal verbracht haben zu dürfen. Besonders die abendlichen Proben für Tanz und Krippenspiel haben viel Spaß gemacht und auch die verschiedenen Weihnachtsfeiern gemeinsam mit den Mädchen fand ich wirklich schön. Aber ich war dann auch froh, als ich in Goa meine Mitfreiwilligen treffen, über unsere Erfahrungen reden, Porridge statt Reis zum Frühstück essen, die Feiertage in aller Ruhe am Strand liegend verbringen und einfach mal ein Tourist unter vielen sein konnte.

Am 2.Januar ging es für mich zurück nach Nandyal und in meinen indischen Alltag. Ich bin sehr gespannt, was dieses Land in 2020 für Überraschungen, Freuden und Herausforderungen für mich bereithält. Das alles gibt es hier schließlich im Minutentakt und ich gebe mich nicht länger der Illusion hin, dass sich das vielleicht irgendwann ändern wird. Wie genau das aussieht, das werde ich dann wohl in einem der nächsten Einträge berichten.

Ich wünsche euch (etwas verspätet) ein frohes und gesundes neues Jahr.

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Der Candlelight Service als Abschluss unserer Weihnachtsfeier im Boarding Home (Foto: EMS/Osenberg)
Der Candlelight Service als Abschluss unserer Weihnachtsfeier im Boarding Home (Foto: EMS/Osenberg)
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Die Mädchen in ihren Kostümen zum Krippenspiel (Foto: EMS/Osenberg)
Die Mädchen in ihrem Kostümen zum Krippenspiel (Foto: EMS/Osenberg)