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Alle Mädchen abends bei der Studytime (Foto: EMS/Oellig)
Alle Mädchen abends bei der Studytime (Foto: EMS/Oellig)
02. Juli 2024

Bildung- eine Selbstverständlichkeit?

Luisa

Luisa

Indien
Mädchenheim
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Liebe Leserinnen und Leser,

in meinem letzten Beitrag habe ich bereits erzählt, dass ich noch mehr zu meiner Zeit in Kannur erzählen möchte. Dabei geht es um meine Einblicke in das Bildungssystem.

Das Schulsystem ist hier in zwei Sektoren aufgeteilt: der staatliche und der private Sektor. Beim staatlichen muss man nichts zahlen, beim privaten gibt es (hohe) Gebühren. Alle Menschen, die in Kerala einen „Government Job“ haben wollen - das können alle möglichen Jobs wie Lehrer, Bankiers, Angestellte in staatlichen Einrichtungen etc. sein - müssen eine „PST Examination“ mit einer sehr guten Prozentzahl bestehen. Wenn sie das tun, können sie sich auf sehr gutes Gehalt, bezahlten Urlaub, Rente und Boni freuen. Das Hostelmädchen aus Kannur hat mir erzählt, dass die Lehrer, dadurch, dass sie nicht von den Schülern bezahlt werden, nicht denselben Druck haben, qualitativ hochwertigen Unterricht zu bieten, wie die Lehrer im privaten Sektor. Dort könnten sich die Kinder nämlich beschweren, wenn sie nicht die Leistung bekommen, für die sie bezahlt haben. Das sei der Grund dafür, dass viele Lehrer in den staatlichen Schulen nicht sehr gut sind. Ich denke, dass es vor allem auch an den fehlenden Überprüfungen und Regeln für die Lehrer liegt. 

Was die Mädchen mir teilweise von der Schule erzählt haben, konnte ich manchmal kaum glauben. Es gab Lehrer, die sind zum Unterricht gekommen um zu schlafen und haben die Schüler angeschrien, wenn sie zu laut waren. Teilweise sind sie gar nicht erst gekommen und teilweise haben sie die Schüler wohl geschlagen, wenn sie durch Prüfungen gefallen sind, zu laut waren oder Aufgaben vergessen haben. Meine Superintendent meinte, die Lehrer schlagen die Schüler nicht mehr, es sei ihnen untersagt worden. Trotzdem haben ihre Enkel und auch die Mädchen mir oft vom Gegenteil berichtet.

Außerdem gibt es in den Schulen hier die Möglichkeit von der 1. bis zur 10. Klasse zwischen einem Unterricht mit Unterrichtsmaterialen und Klassenarbeiten auf Englisch oder Malayalam zu wählen. Die Unterrichtssprache ist allerdings immer Malayalam. Man fängt im Kindergarten schon mit Englisch an, der auch entweder privat oder staatlich ist.  Ab der 11. Klasse (und dann auch weiterhin im College) sind alle Unterlagen auf Englisch, auch wenn man davor nur Unterrichtsmaterialien auf Malayalam hatte. Das bedeutet, um alles verstehen zu können, müsste man eigentlich schon (ab der 1. Klasse) auf einem sehr hohen Niveau Englisch sprechen und lesen können. Dieses vorausgesetzte Englisch wird in der Schule selber aber gar nicht vermittelt. Schüler, die private Nachhilfe und helfende, gebildete Eltern haben, sind also klar im Vorteil. Meine Mädchen haben diese Privilegien nicht, deswegen hat das zu großen Problemen geführt, weil ihre Englischkenntnisse nicht ansatzweise ausreichend waren. Deshalb sah das Lernen auf die Klassenarbeiten immer so aus, dass diktierte Modellfragen und -antworten auswendig gelernt wurden, ohne vom Inhalt irgendetwas zu verstehen. Dieses Konzept stößt aber andauernd an seine Grenzen, was unglaublich frustrierend ist, vor allem wenn schlechte Ergebnisse in Arbeiten von der Warden und Superintendent mit Faulsein gleichgesetzt werden. Dabei hat das gar nicht unbedingt zugetroffen: die Mädchen hatten schlichtweg keine Ahnung wovon sie reden oder was von ihnen verlangt wurde und haben dann ratespielmäßig die gelernten Modellantworten auf Fragen gegeben, die teilweise nur ein gleiches Wort enthalten. Dieses „auf gut Glück“- Ausfüllen hat die Mädchen oft entmutigt und frustriert. Dass sie dann nach den ohnehin schon langen Tagen keine Motivation mehr zu lernen hatten, ist auch nachvollziehbar. Das war nicht nur bei den größeren Mädchen auf der weiterführenden Schule so, sondern auch schon bei den Kleinen. Ich hatte immer das Gefühl, dass es kein logisch aufeinander aufbauender und für meine Mädchen machbarer Unterricht war. Beispielsweise konnten sie noch nicht lesen und verstehen wie man die Buchstaben zum Wort aneinanderreiht, und mussten trotzdem Texte zum benoteten Vorlesen vorbereiten. Das führte oft dazu, dass sie wieder mal einfach nur versucht haben die Worte als Bild auswendig zu lernen, anstatt sie lesen zu lernen.

Die Mädchen haben sich immer gegenseitig geholfen und ich habe auch versucht, so gut es ging zu helfen, aber jedem konnte ich gar nicht zur Hilfe kommen, weil es einfach zu viele waren und es teilweise auch lange gebraucht hat, bis etwas verstanden wurde. Einerseits wegen der Sprachbarriere, andererseits weil die Mädchen noch gar nicht wussten wie man lernt und keine Lernstrategien hatten. Es gab trotzdem  viele wundervolle Momente in denen man Erfolge sehen konnte. Beispielsweise habe ich mit einem Mädchen immer wieder über einen längeren Zeitraum hinweg Mathe geübt und bei ihrem nächsten Test hatte sie ihr bisher bestes Ergebnis. Darauf war sie ganz stolz und das hat auch andere Mädchen motiviert nach Hilfe zu fragen. Eine andere Situation zeigt, dass man mit viel Anstrengung trotzdem diese Hürden überstehen kann: ein großes Mädchen hat immer sehr fleißig gelernt und sich die meiste Mühe gegeben und schließlich auch als einzige alle Prüfungen bestanden. Zwar war das nicht mit der aller besten Noten, aber ein bestandener Schulabschluss eröffnet immer noch deutlich mehr Möglichkeiten als keiner!

Dass gute Bildung und ein gutes Schulsystem ein Privileg sind, habe ich zwar schon davor gewusst, aber durch das, was ich hier miterlebt habe, habe ich es ganz anders verstanden und verinnerlicht. So bin ich definitiv dankbarer für die Bildung bei uns in der Schule und auch motivierter auf meine zukünftige Studienzeit. 

Gerade hier wäre die Bildung für Frauen und die arme Bevölkerung Indiens so wichtig, um sich eine bessere Zukunft aufbauen zu können. Aber zum Thema Frauen schreibe ich im nächsten Blogeintrag mehr!

Bis dahin liebe Grüße,

Luisa 

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Die Mädchen hatten die Hausaufgabe ein Haus zu bauen und auf das Endergebnis waren sie sehr stolz:) (Foto: EMS/Oellig)
Die Mädchen hatten die Hausaufgabe ein Haus zu bauen und auf das Endergebnis waren sie sehr stolz:) (Foto: EMS/Oellig)
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Meine Mama hatte uns Origamipapier geschickt. Damit haben die Mädchen einen Test nachgespielt und ohne beieinander abzuschauen eine Origamiefigur gefaltet. (Foto: EMS/Oellig)
Meine Mama hatte uns Origamipapier geschickt. Damit haben die Mädchen einen Test nachgespielt und ohne beieinander abzuschauen eine Origamiefigur gefaltet. (Foto: EMS/Oellig)

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