Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)
Endlich ein neuer Blogeintrag :)
Der Alltag ist da. Nicht erst seit gestern sondern schon seit knappen zwei Monaten. Morgens gehe ich nach wie vor in die Crèche und abends in das Kinderheim (ehemaliges Poliohome) zum Englisch unterrichten. In das Boyshome gehe ich samstags und sonntags um den Jungs ein, zwei Lieder beizubringen und danach in der Mittagshitze Räuber und Gendarm zu spielen. Dass es sich irgendwann so normal anfühlen wird in einem so fremden und anderen Land zu leben, hätte ich niemals für möglich gehalten. Es ist nicht so, dass ich mich an alles was anders ist gewöhnt habe, aber das meiste nehme ich mit einem Schulterzucken und dem Satz „ist halt Indien“ hin. Es wird jeden Tag heißer und auch in meiner Wohnung ist es nicht mehr so kühl wie es Mitte Dezember noch der Fall war. Daran habe ich mich noch nicht gewöhnt aber mit ein paar kalten Duschen am Tag und einem sehr zuverlässigen Ventilator, lässt sich das schon überleben.
Woran ich mich wahrscheinlich eher nicht gewöhnen werde, ist die hier übliche Kindererziehung. Schon auf den Vorbereitungsseminaren wurde uns gesagt, dass wir damit rechnen müssen, dass die Kinder in unseren Einstatzstellen eventuell geschlagen werden. Vor allem bei jüngeren Kindern habe ich das schon miterlebt. Zum Glück waren es nicht richtige Prügel, sondern „nur“ eine Ohrfeige oder ein Schlag auf den Rücken. Man muss aber bedenken, dass die Gesellschaft in Indien eine andere ist und der Konkurrenzkampf um das Überleben täglich steigt. Eine andere Erziehung wie wir sie kennen ist deshalb nicht verwunderlich. Auch in Deutschland gab es vor ein paar Jahrzehnten noch die Prügelstrafe und es hat seine Zeit gebraucht diese zu verbieten. Indien befindet sich auch in dieser Entwicklung aber auch hier wird es einfach dauern, bis das Schlagen als Erziehungsmethode ein Tabu wird.Durch Gespräche mit älteren Personen und Kindern habe ich erfahren, dass vor allem in den Schulen heute weniger geschlagen wird als noch vor 50 Jahren. Es fühlt sich ehrlich gesagt ziemlich seltsam an über dieses Thema zu schreiben, da ich vor Indien niemals auch nur einen Gedanken an die Prügelstrafe verschwendet habe. Die Kinder sind nichts anderes gewöhnt, weshalb keine andere Strafe einen klaren Effekt hat. Ich habe oft das Gefühl, dass die Kinder mich nicht als ganze Respektsperson sehen, weil ich sie eben nur böse anschaue oder auch lauter werde, wenn sie etwas ganz klar falsch gemacht haben. Am Anfang hat mich das noch mehr gestört (dass sie weniger Respekt vor mir haben) als jetzt, denn ich habe das Gefühl, dass die Kinder mich sehr lieb haben, was mir wertvoller erscheint, als genügend Respekt.
Dass die Kinder mich so mögen hat aber glaube ich nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass ich sie nicht schlage, denn das sind sie ja so gewöhnt, wie in Deutschland eine Standpauke eines Erwachsenen als ertragbar angenommen wird. Vielmehr schätzen die Kinder, dass ich mit ihnen lustige Dinge mache (zum Beispiel „Pizzabacken“, Bildermalen oder sie durchkitzeln) und sie zum Lachen bringe. Ich nehme mir intensiv Zeit und setzte mich zu ihnen auf den Boden, wozu die beiden Köchinnen logischerweise keine Zeit haben. Auch meine Chefin hat viel zu tun im Büro, weshalb ich mich fast ausschließlich alleine mit den Kindern befasse. Es macht unglaublich viel Spaß die verschiedenen Persönlichkeiten der Kinder immer besser kennenzulernen und deren Entwicklung mitzuerleben. Ein Kind zum Beispiel ist vor drei Monaten das erste Mal in die Crèche gebracht worden und war die ersten Wochen nur am Weinen. Er ist erst ein Jahr alt und ruft immer bitterlich nach seiner Mutter. Wenn ich versucht habe ihn zu trösten oder in den Arm zu nehmen, hat er sich mit allen Kräften gewehrt und hat versucht wegzurennen. Erst ganz langsam hat er gemerkt, dass ich ihm nichts Böses tun will und er hat Vertrauen zu mir aufgebaut. Vor einer Woche dann, als ihn seine Großmutter morgens wieder in die Crèche brachte, krabbelte er nach kurzem Gewimmer auf meinen Schoss und schlief dort ein.Wenn ich auch nur daran denke, dass ich zu den Kindern schon in drei Monaten „Lebt wohl“ sagen muss, werde ich unglaublich traurig.
Was jedoch alles andere als traurig war, war das Holi mitten im März. Holi ist ein hinduistisches Frühlingsfest, bei dem unter anderem der Sieg des Frühlings über den Winter gefeiert wird. Jedoch gibt es noch zahlreiche andere vielschichtigere Bedeutungen, die du selbst im wunderbaren Internet nachlesen kannst. Es wird getanzt, gesungen und sich vor allem ordentlich mit Farbpulvern beworfen. Wie so oft habe ich erst am Tag des Sepektakels davon erfahren. Als ich schon enttäuscht von der geschlossenen Crèche zu meiner Wohnung gelaufen bin, habe ich lautes Kinderlachen und Geschrei aus dem Kinderheim (ehemaliges Poliohome) gehört und dachte, dass ich da mal vorbei schaue. Zuerst machte alles einen normalen Eindruck. Ein paar Mädchen saßen im Innenhof und kämmten sich die Haare. Andere putzten die Badezimmer oder bemalten sich gegenseitig mit Henna. Schnell viel mir auf, dass keine Jungs zu sehen waren und als ich nach ihnen fragte, wurde mir gesagt, dass sie hinter dem Gebäude auf dem Fußballplatz spielen. Dort fand ich sie dann, mit keinen Farbtütchen, die aber zum Großteil schon leer waren, da die Farbe schon im Gesicht klebte. Auch ich wurde erstmal mit den verschiedensten Farben eingerieben und hatte auch selbst große Freude dabei die Jungs anzumalen. Später artete es dann noch zu einer Wasserschlacht aus, was die Farbe aber natürlich nicht im Geringsten abwusch. Noch heute habe ich rosa Flecken in den Haaren…
Ein paarmal fragte ich, weshalb die Mädchen nicht mitmachen, worauf mir gesagt wurde, dass nur die Jungs mitspielen dürfen. Eine Betreuerin erklärte mir dann, dass es unanständig ist für Mädchen, sich mit Farben zu bewerfen. Dafür hatte ich in diesem Augenblick nur wenig Verständnis und diskutierte so lange mit ihr, bis sie schließlich mit einem Lachen den kleineren Mädchen das mitspielen erlaubte. Jetzt im Nachhinein kann ich es besser verstehen da hier grundsätzlich mehr auf eine klare Trennung von Jungs und Mädchen geachtet wird. Zwar leben in dem Kinderheim beide Geschlechter in einem Haus und gehen auch gemeinsam zur Schule, sind aber in den meisten alltäglichen Dingen getrennt. So zum Beispiel beim Essen, Singen und Beten. Auch meistens beim Spielen, da die Mädchen lieber Hüpfspiele spielen und die Jungs sich besser mit Fußball oder Cricket beschäftigen können. Beim Holi fasst man sich jedoch gegenseitig ins Gesicht oder schmiert sich die Farbe auch auf die Klamotten, weshalb ich jetzt schon besser verstehe, weshalb den Mädchen nicht erlaubt war mitzumachen. Nicht ganz fair finde ich es aber immer noch.
Trotz der teilweise unangenehmen Dinge die ich hier teilweise erlebe, bin ich dankbar solche Erfahrungen zu machen, da sie meine Perspektive ändern und ich über Sachen nachdenke, die mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen sind oder die bis dahin komplett fremd für mich waren. Die schönen kleinen alltäglichen Dinge überwiegen aber zum Glück. Ich kann also guten Gewissens sagen, dass es mir hier in entfernten Indien gut geht und ich froh bin, diese Entscheidung getroffen zu haben, hierher zu kommen.
Liebe Grüße, eure Johanna