Weltweit erlebt
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14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Auf dem Schulhof findet jeden Tag der Morgenappell statt. (Foto: EMS/Garden)
Auf dem Schulhof findet jeden Tag der Morgenappell statt. (Foto: EMS/Garden)
16. Dezember 2017

Lernen und Lehren zur gleichen Zeit

Pia

Pia

Jordanien
unterstützt eine integrative Blindenschule
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Der Schulalltag an der Arab Episcopal School (AES) beginnt für alle Schüler*innen und Lehrer*innen um 7:45 Uhr mit einem viertelstündingen Morgenapell. Teil davon ist das Singen der Nationalhymne, Gymnastikübungen, die von der Sportlehrerin Miss Radier angeleitet werden und eine Rede von der Schulleiterin Miss Sabah. Wenn Kinder Geburtstag haben wird noch Happy Birthday auf Englisch und Arabisch gesungen. Danach fängt der Unterricht in den 10 Jahrgängen an. Amüsant finde ich mit anzusehen, dass der Morgensport von den jüngeren Kindern noch kräftig mitgemacht wird, wohingegen die Begeisterung dafür bei den älteren Schüler*innen deutlich nachlässt.

Wie schon in meinem ersten Blogeintag kurz beschrieben, ist es eine meiner Hauptaufgaben, mit im Sportunterricht zu sein. In jeder Klasse sind meist zwei bis drei blinde bzw. stark sehbehinderte Schüler*innen. Manchmal begleite ich sie während des normalen Unterrichts, um bei einzelnen Übungen zu helfen. Der „normale“ Sportunterricht ist allerdings nicht mit strukturierten und themenbezogenen Stunden zu vergleichen, die ich in meiner Schulzeit in Deutschland meist erfahren habe. Vor allem in den älteren Jahrgängen verläuft die Sportstunde immer ziemlich ähnlich: die Jungen bekommen einen Fußball und die Mädchen einen Basketball, mit dem sie sich dann selbständig beschäftigen. Miss Radier überwacht das ganze, greift aber nur bei kleineren Streitereien ein. In den jüngeren Jahrgängen gibt es dafür geplante Unterrichtsstunden, in denen dann angeleitete Spiele gespielt werden. In den meisten Fällen können die blinden und sehbehinderten Schüler*innen dabei allerdings nicht unbenachteiligt mitspielen.

Von daher wollen die Kinder meistens etwas anderes machen und so spiele ich mit ihnen unabhängig von dem Rest der Klasse. Ich persönlich finde das sehr angenehm, da ich auf diese Weise auf die Wünsche und Interressen der Schüler*innen eingehen kann. Mohammad und Batoul aus der ersten Klasse spielen beispielsweise sehr gerne mit einem Ball welcher klingelt sobald man ihn bewegt. So können sie den Ball fangen oder mit ihm Fussball spielen, auch ohne ihn zu sehen. Die drei Mädchen aus der dritten Klasse, Jena, Heba und Enas, wollen fast immer zu den Hollywoodschaukeln, die auf dem Schulgelände stehen. Es gibt auch ein sehr begehrtes Klettergerüst. Die Schüler*innen in den höheren Klassen spielen oftmals mit einem Basketball oder sind bei ihren Klassenkamerad*innen. Dabei habe ich dann als „Miss Pia“ meist die Aufsicht über eine Klassenhälfte. Mit Miss werden hier alle Lehrerinnen angesprochen. Der Sportunterricht findet immer auf dem Schulhof oder einem eingezäunten Platz auf dem Dach der AES statt. Beides ist draußen und sobald es regnet (was für mein Empfinden nicht so häufig passiert), wichtige Examen anstehen oder es bald schlichtweg zu kalt wird, fällt der Sportunterricht aus.

In den kommenden Wochen werde ich also vermutlich mehr im Englischunterricht helfen, was bis jetzt eher die Aufgabe von Rebekka, der dritten Freiwilligen an der AES war. Sie ist letzte Woche wieder abgereist, da ihre Zeit hier auch schon wieder vorbei ist. In den Englischstunden ist meine Aufgabe hauptsächlich die Unterstützung der blinden Schüler*innen, so habe ich beispielsweise in der 5. Klasse den beiden blinden Jungen geholfen, indem ich ihnen die Aufgaben von der Tafel diktiert und einzelne Wörter buchstabiert habe.

Zusätzlich dazu werde ich in Zukunft die Deutschstunden nun alleine vorbereiten und durchführen. Im Klassenraum ist aber immer noch eine Lehrerin dabei, die hin und wieder für Ruhe sorgt und einzelne Aufgaben übersetzt wenn die Schüler*innen sie auf Deutsch nicht verstehen. Der Deutschunterricht soll dabei kein Fach sein, welches benotet wird oder man Leistungen nachweisen muss. Vielmehr versuche ich den Kindern der ersten drei Klassen die deutsche Sprache und Kultur ein wenig näher zu bringen und lerne mit ihnen einzelne Wörter und einfache Sätze. Momentan singen wir Weihnachts- und Winterlieder wie "Kling, Glöckchen" und "Fröhliche Weihnacht überall".

Vor ein paar Wochen ist Rebekka und mir noch aufgefallen, dass eine Schülerin in der 5. Klasse kaum Englisch lesen, geschweige denn schreiben kann. Dem Unterricht kann sie so bei den Sachen, die irgendwie mit Schrift zu tun haben, nicht folgen. Da sie laut ihrer Lehrerin die gleichen Probleme auch in Arabisch hat, vermuten wir bei ihr eine Form von Legasthenie. In Arabisch kann ich ihr natürlich nicht weiterhelfen, aber in manchen Englischstunden darf ich sie aus dem Unterricht rausnehmen. Jetzt versuche ich ihr die englische Lautierung der Buchstaben und Wörter beizubringen. Das ist für uns beide ziemlich herausfordernd, da man einzelne Buchstaben ja unterschiedlich ausspricht, je nachdem wo im Wort sie stehen oder was der nächste Buchstabe ist und ich noch nie in der Situation war, jemanden das beizubringen.

Zwischen den Unterrichtsstunden habe ich noch „Office Work“. Ich helfe Assis, unser Ansprechpartner und Pfarrer der angrenzenden Kirche, bei der ganzen Korrespondenz nach Deutschland. Das heißt ich schreibe und beantworte hauptsächlich e-Mails von und nach Deutschland, schreibe Dankeskarten für Spender und ab und zu verfasse ich kleinere Texte die Assis beispielsweise für seine Reisen nach Deutschland braucht.

Ansonsten gibt es immer kleinere Aufgaben von den Lehrer*innen oder der Schulleitung. Ich tippe ab und zu Arbeitsblätter oder Texte und Aufgaben aus Workbooks ab, damit man diese später in Braille drucken kann. Auch Bastelaufträge für anstehende Events gibt es immer wieder. In den letzten Wochen haben wir ca. 300 Weihnachtskarten für alle Unterstützer*innen der Schule gestaltet und so sind meine Tage hier bis ca. zwischen drei und halb vier immer gut gefüllt.

Mir fällt immer wieder auf, was für eine gute Schulbildung ich in Deutschland erfahren habe. Die Lehrer*innen hier haben fast alle in ihrem Fach eine Universität besucht aber in Jordanien gibt es so etwas wie ein Studium für Lehramt nicht. Eine pädagogische Ausbildung fehlt somit den meisten. In den Klassenzimmern wird sehr viel geschrien oder mit Gegenständen ohrenbetäubend auf Tische geklopft. Meinen Beobachtungen nach verschafft das einem die Aufmerksamkeit der Schüler*innen aber auch nur kurz. Die Deutschstunden sind für mich immer eine Herausforderung, da ich nicht in diesen Kreislauf der Lautstärke geraten möchte und es gleichzeitig gar nicht anders zu funktionieren scheint, da sich alle schon so daran gewöhnt haben. Natürlich ist es in „deutschen Klassen“ auch nicht immer leise, zudem ist jede Schule und jede Zusammenstellung von Schülern auch anders und so nicht direkt miteinander vergleichbar. Aber so extrem wie hier habe ich es persönlich noch nicht erlebt. Dabei wird mir immer wieder bewusst, wie gut es mir in meiner Schulzeit ging.

Abgesehen von der Lautstärke bedeutet "anders" ja auch nicht "schlechter", eben nur ungewohnt für mich. Ich finde es sehr gut von meiner eigenen Vorstellung, wie was sein sollte, auch einmal wegzukommen und mich darauf einzulassen, wie es hier in Irbid ist. Einerseits ist die Kultur, die ich kennenlerne, aber auch die Arbeit mit den blinden Kindern, die ihre Umgebung noch einmal ganz anders wahrnehmen und sich im Schulalltag zurechtfinden müssen, für mich sehr spannend.

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Taim (2. Klasse) beim Spielen (Foto: EMS/Garden)
Taim (2. Klasse) beim Spielen (Foto: EMS/Garden)
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Alla'a und Muntasser (5. Klasse) auf dem Klettergerüst (Foto: EMS/Garden)
Alla'a und Muntasser (5. Klasse) auf dem Klettergerüst (Foto: EMS/Garden)