
Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

Wirklich schon Halbzeit?
Inzwischen sind schon meine beinahe ersten drei Monate um. Ich merke mehr und mehr, dass ich mich immer mehr eingewöhne und einlebe. An Regeln wie „Du sollst nicht die linke Hand benutzen“, nur die Beine neben einander aufsetzen beim Sitzen, die Hände bei Gesprächen nicht in die Hüfte stemmen, sowie nicht die Arme verschränken mache ich inzwischen automatisch.
Solche oberflächlichen Dinge sind mir also inzwischen vertraut. Allerdings begreife ich aber auch, dass in meinen Augen die indonesische Kultur weitaus komplexer ist, als es meine ersten Eindrücke waren.
Viele Dinge ergeben für mich wenig Sinn und anders herum wundern sich die Indonesier manchmal über mein Verhalten.
Beim barfuß durch den Regen in die Stadt laufen wird man verdammt schräg angeschaut, wobei ich das fast noch verstehen kann.
Zu Fuß laufen tun hier die meisten auch sehr ungern. Jeder Meter wird versucht zu vermeiden und bei Möglichkeit mit dem Mopet gefahren. Während ich anfangs noch den totalen Bewegungsdrang hatte, weil ich wirklich selten die Möglichkeit hatte mal wenigstens zu gehen, habe ich mich inzwischen auch daran (leider) gewöhnt.
Mir hat letztens ein Freund besorgt erzählt, dass er Stephanie ( ursprünglich eine Holländerin, die uns Indonesisch beibringt) alleine mit ihrem Hund spazieren gesehen hat. Ich musste fast lachen und habe ihm dann versucht zu erklären, dass ich in Europa viele Menschen kenne, die alleine mit ihrem Hund spazieren gehen und dass solch ein Verhalten aus europäischer Sicht nicht ungewöhnlich ist.
Viele Dinge missverstehe also nach wie vor, aber mit der Hilfe von meinen Mitmenschen wird mir die Kultur immer ein bisschen vertrauter.
Arbeit im Panti:
Der eigentliche Plan, dass ich bei einer Gastfamilie wohne, hat sich wie gesagt geändert und ich teile mir nun mit meiner Mitfreiwilligen Berit ein Zimmer in ihrer Einsatzstelle im Kinderheim.
Um ehrlich zu sein, hatte ich mich anfangs sehr auf das Leben in einer Gastfamilie gefreut und ich war etwas enttäuscht zu Beginn, aber inzwischen ist mir bewusst geworden, dass die Kinder und meine Kollegen nun meine Gastfamilie sind..
Es gab zu Beginn einige Probleme und Missverständnisse inwieweit ich jetzt auch hier im Kinderheim mitwirke.
Mittlerweile hat sich das aber weitestgehend geklärt und ich helfe den Kindern jetzt täglich bei den Hausaufgaben, bastle gerne mit ihnen und nehme an der Abendrunde sowie an den Mahlzeiten teil.
Ach so und einen großen Teil meiner Zeit verbringe ich auch damit, Gäste im Kinderheim zu empfangen. Mein Rekord lag bei über 500 Leuten Hände schütteln an einem Tag und einer Tonne Reis als Gastgeschenk. Um Abwechslung in den Alltag des Kinderheims zu bringen und Spenden persönlich in Empfang zu nehmen, kommen nämlich häufig ein paar Mal in der Woche Gäste. Meistens werden Gäste in Form eines Gottesdienstes in unserem Kinderheim begrüßt. Mit viel Freude essen wir im Anschluss dann die oft noch mitgebrachten Speisen.
Nun zu meiner Arbeit im RBM:
Die Arbeit im RBM ist meine Hauptarbeit und meine für mich vorher vorgesehene Einsatzstelle.
Das RBM ist eine Einrichtung für Kinder und junge Erwachsene mit geistiger und auch körperlicher Behinderung. Sie beinhaltet sowohl eine Schule, aber auch einen Besuchsdienst, bei dem wir Kinder, die in abgelegeneren Orten wohnen, je nach ihren Bedürfnissen unterstützen.
Beinahe alle der Kinder haben Spastik und werden von uns massiert und gestrecht.
Die körperliche Situation kann sich dabei nicht verbessern. Die Aufgabe ist eher, dass die Situation sich nicht verschlimmert.
Ich kann mich noch gut an meinen ersten Besuch erinnern. Ich weiß nicht wie ich es ausdrücken soll, aber ich war wirklich ziemlich erschrocken, weil mir die schlechte medizinische Versorgung vorgeführt wurde. Die guten medizinischen Möglichkeiten in Deutschland ermöglichen es, dass Kinder mit Spastik seit Geburt an medizinisch und physiotherapeutisch behandelt werden. Dass die spastischen Kinder hier häufig in einem körperlich sehr schlechten Zustand sind, hat verschiedene Gründe. Ein großer Faktor ist das Geld. Eine ärztliche Versorgung können sich viele Familien nicht leisten. Zum anderen sind die Kenntnisse der Ärzte über Spastik oft nicht ausreichend und Physiotherapeuten gibt es hier auch nur einige wenige.
Am Anfang war ich ziemlich überfordert und unsicher, wie fest ich die Kinder anfassen kann und wie weit ich z.B. die Arme stretchen kann, gerade weil ich keine Erfahrung im Bereich Physiotherapie habe.
Umso mehr hat es mir geholfen, dass genau zu meiner Anfangszeit ein holländischer Physiotherapeut, der jedes Jahr für einen Monat die Ibus schult, aber die Kinder direkt betreut, da war. Er konnte mir viele Dinge in diesem Bereich zeigen und auf Englisch erklären, was mir wirklich sehr geholfen hat. Auf die Sprache möchte ich später noch einmal genauer eingehen.
Inzwischen habe ich aber auch verstanden, dass es hier nicht bloß auf das medizinische Wissen ankommt, sondern gleichbedeutend oder vielleicht sogar bedeutender ist die Aufmerksamkeit, die man den Kindern, aber auch deren Familien schenkt. Viele Familien schämen sich nämlich für ihre Kinder und verstecken diese vor Nachbarn und Bekannten. Draußen „gezeigt“ werden nur wenige, weil es aber auch an den Transportmöglichkeiten wie z.B. Rollstühlen mangelt.
Um die Kinder in den Dörfern zu besuchen, habe ich ein Motorrad für die sechs Monate geliehen bekommen. Damit liebe ich es auch in meiner Freizeit über das Land zu fahren und generell sehr unabhängig zu sein.
Dass ich nicht ab dem ersten Tag mit dem Motorrad alleine zur Arbeit fahren wollte, konnten meine Kolleginnen überhaupt nicht verstehen. Für mich war der Verkehr am Anfang ziemlich angsteinflößend. Es schien keine Regeln zu geben und die Vorstellung, mich an den Linksverkehr zu halten hat mich ein bisschen verunsichert. Ich wollte erst einmal den Verkehr vom Auto aus abchecken.
Außerdem habe ich die Fahrten mit meinen Kollegen und Schülern zum RBM immer sehr genossen. In einen 7-Sitzer werden entspannt 15 Leute reingequetscht. Dabei wurde laut durcheinander geredet- auf indonesisch, englisch oder Gebärdensprache, noch die letzten Reste fertig gefrühstückt und laut gelacht.
Die Arbeit in der Schule ist auch sehr spannend. Nachdem sich das morgendliche „Strammsteh“-Programm und das Praying vorbei ist, teilen sich die Kinder auf zwei verschiedene Klassen auf.
Die eine Klasse besteht aus tauben Kindern und die andere aus geistig und motorisch eingeschränkten Personen. Zum einen ist meine Aufgabe den kleineren Kindern beim Schreiben zu helfen und ansonsten assistiere ich meinen Kollegen.
Letzte Woche war meine Aufgabe gemeinsam mit der tauben Lehrerin Ibu Anna die Aussprache zu trainieren. Weil ich die einzige hörende Lehrerin im Raum war, musste ich immer die Aussprache bewerten. Durch die Berührung am Hals und durch das Spüren des Atems, haben sie versucht Laute von sich zu geben, die sie selbst nicht hören. Nach dem Unterricht mache ich mit den Kindern typischen Toraja Schmuck, der verkauft wird.
Freitags nutzen wir außerdem immer den Swimmingpool eines der umliegenden Hotels, was sowohl den Kindern, aber auch uns Lehrerinnen sehr viel Freude bereitet.
Die Arbeit ist also sehr abwechslungsreich und kein Tag ist wie der andere, weil wir auch häufig Gäste empfangen oder Ausflüge machen.
Sprachlich ist das RBM eine große Herausforderung. Meine Mitarbeiter sprechen kein Englisch mit Ausnahme meiner tauben Kollegin mit der ich mich dann, wenn es mal schnell gehen muss, mit Zettel und Stift unterhalten kann.
Mit den tauben Kindern und meiner tauben Kollegin spreche ich Gebärdensprache. Neben Indonesisch bin ich also eifrig dabei auch wenigstens die Basics von der Gebärdensprache zu erlernen. Das Alphabet hatte ich aber schnell drauf und das reicht meistens auch schon aus.
Glücklicherweise habe ich hier Stephanie kennengelernt und sie gibt uns zwei mal pro Woche Bahasa Indonesia Unterricht.
Für die Heimweh-Attacken (von denen ich übrigens bisher zum Glück komplett verschont gewesen bin) hat sie uns direkt am Anfang angekündigt uns mit Pfannkuchen und Apfelkuchen zu versorgen, um uns bei Laune zu halten. Aber auch ohne Heimweh-Attacken kann man bei ihr sehr gutes europäisches Essen essen.
Stephanie wohnt schon seit über 20 Jahren in Indonesien. Wenn es sich so anfühlt, dass ich die Welt nicht mehr verstehe, erklärt mir Stephanie Dinge über die indonesische Kultur, was mir schon einige Problemchen erspart hat.
„Selamat Hari Minggu!“( Schönen Sonntag!, wird sich nach dem Sonntagsgottesdienst gewünscht)
In der Kultur hier spielt Religion eine große Rolle. Ich habe mich letztens mit einem Mann unterhalten, der mir gesagt hat, dass er jeden gläubigen Menschen toleriert, solange er glaubt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen hier so denken. Das ist auch der Grund, warum die Religionen hier so gut miteinander leben können, was ich sehr bewundernswert finde.
Der Atheismus ist hier übrigens gesetzlich verboten.
Die Kirche am Sonntag sollte also definitiv nie verpasst werden.
Auffällig ist hier, dass viel lauter gesungen wird als ich es in meiner Gemeinde gewohnt bin und dass der Gottesdienst generell häufig bis an die zwei Stunden geht, in denen ich aber mehr und mehr verstehe.
Weil ich auch viel Freizeit habe, habe ich die Möglichkeit auch viele andere Dinge zu erleben. Häufig treffe ich mich daher mit Freunden. Wir trinken den wirklich sehr erträglichen Toraja Kopi (ich bin eigentlich überhaupt kein Kaffee-Trinker), spielen Gitarre und singen dazu. Dank ihnen konnte ich schon sehr viel von Rantepao und der Gegend außerhalb von Rantepao entdecken.
Generell bin ich sehr glücklich hier. Die Zeiten, in denen ich mich nach Ordnung und „westlichen Werten“ sehne, sind wirklich selten. Wenn ich mir bewusst mache, dass schon fast Halbzeit ist, macht mir das um ehrlich zu sein etwas Angst, weil ich die Zeit hier wirklich sehr, sehr genieße.

