
Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

Danke, thanks, നന്ദി
Wieder in Deutschland
In den letzten Wochen ging mir sehr viel durch den Kopf. Seit vier Tagen bin ich zurück in Deutschland und ich glaube, es wird noch eine ganze Weile dauern bis ich realisiert habe, wie viel ich durch meinen Aufenthalt in Indien über mich und auch über die Welt gelernt habe.
Einen Gedanken möchte ich unbedingt mit euch teilen. Es geht um meine veränderte Wahrnehmung der Welt. In Indien habe ich eine neue Realität kennen gelernt. Obwohl, „neu“ ist das falsche Wort. Ich habe eher eine andere Lebensweise erlebt. Ich habe erst jetzt so richtig verinnerlicht, dass jedes Individuum der Welt in seiner eigenen Realität lebt. Damit meine ich nicht, es gibt für mich jetzt zwei Lebensweisen: deutsch und indisch. Ich finde, sowas zu sagen klingt nicht nur komisch, sondern ist auch totaler Blödsinn. Ich habe realisiert, dass es in dieser Welt genauso viele Realitäten wie Menschen gibt. Das Land, in dem wir geboren werden und somit die Kultur, in der wir groß werden, ist bloß ein kleiner Teil dessen, was uns als Person ausmacht. Gestern als ich zum ersten Mal seit Monaten wieder durch die Straßen Deutschlands gelaufen bin, ist mir eine Sache bewusst geworden, die diesen Gedanken unterstützt: Hier, in meinem Heimatland, habe ich nur eine Sache mit allen Deutschen gemeinsam. Nämlich, dass wir in Deutschland leben. Aber egal ob ich mich mit meiner Zwillingsschwester, die ja offensichtlich unter den gleichen Umständen aufgewachsen ist wie ich oder mit einem Politiker einer rechtspopulistischen Partei vergleiche, ich würde niemals behaupten, dass wir uns (als Deutsche) zu 100 Prozent gleich verhalten. Im Gegenteil, natürlich sind wir alle nur Menschen, haben sehr positive Eigenschaften, Talente und Makel. Aber genau in all diesen Dingen unterscheiden wir uns. Und das macht uns zu einzigartigen Individuen. Warum sollte ich also jemals denken, dass alle Menschen mit gleicher Herkunft auch ein bestimmtes anderes Attribut teilen? Da ist mir nochmal klar geworden, wie unlogisch es ist, zu verallgemeinern. Es ist einfach falsch zu sagen „Alle Deutschen tun dies und alle InderInnen sind so oder so.“
Klar war ich vor meinem Freiwilligendienst nicht diskriminierend oder bewusst voreingenommen. Aber ich war, was Indien angeht, ignorant. Ich wusste einfach nicht, was für Menschen ich kennenlerne oder wie ihr Alltag aussieht. Wie die anderen vom ÖFP durfte ich zehn Monate lang einen Alltag miterleben, der den Menschen so vertraut ist wie mir mein Alltag bis zum September 2017. Ich bin sehr dankbar für die Menschen, die mir diese Erfahrung möglich gemacht haben. Vor allem den Mädchen und Frauen mit denen ich zusammen gewohnt habe. Es ist nicht selbst verständlich, dass man mit so viel Offenheit, Interesse und Freundlichkeit empfangen wird. Ich könnte mir jedenfalls kaum vorstellen, eine 18-Jährige aus einem weit entfernten Land einfach so für zehn Monate bei mir wohnen zu lassen, sie durchzufüttern und dann auch noch bei den Formalitäten zu helfen. Gerade meine Chefin hatte so viel Geduld mit mir. Ich glaube, ich habe sie in meinen Blog-Einträgen noch nicht genug gewürdigt.
Meine Chefin ist der Superintendent des Bethania Students' Home und Hostel. Das bedeutet, dass sie sich eigentlich um fast alles kümmern muss. Im Heim wird sie von allen Supernandie genannt, das ist eine Mischung aus Superintendent und Auntie (engl. für Tante, wie man in Indien fast alle Frauen in der Bekanntschaft nennt). Sie macht die Buchhaltung und regelt Streitigkeiten unter den Mitarbeiterinnen und Kindern. Es ist sicherlich an die 100 mal passiert, dass ich eigentlich kurz mit ihr reden wollte, dann aber warten musste, weil das Telefon und ihr privates Handy gleichzeitig klingelten und sie erst noch 15 Minuten brauchte, um die Telefonate ab zu wickeln. Ganz nebenbei muss sich sich auch noch um ihre zwei Großneffen kümmern, deren Eltern außerorts arbeiten und es bloß ein, zwei mal im Jahr nach Hause schaffen. Ihr merkt, welch eine Powerfrau und inspirierende Person in Supernandie steckt. Es war schön, dass ich sie so viel unterstützen konnte. Zum Abschied tat es gut zu hören, dass ich ihr oft eine große Last abgenommen habe, in dem ich mit zum Einkaufen kam, die Jungs von der Schule abgeholt und zur Nachhilfe gebracht habe oder am Computer geholfen habe.
Zur Abschlussrunde an meinem letzten Abend in Kannur sollte auch ich ein abschließendes Fazit ziehen. Bei der Gelegenheit wollte ich die Kinder und älteren Mädchen nochmal daran erinnern, wie einzigartig jede von ihnen ist. Natürlich hatte ich unter ihnen bessere und weniger gute Freundschaften geknüpft, aber alles in allem gönne ich jeder von ihnen ein glückliches Leben. Ich schätze es sehr, an allen Mädels dort, dass sie mir immer gute Laune bereiten wollten. Ich finde es auch bewundernswert, dass sie es schaffen in einer Gesellschaft, in der Frauen größtenteils mit weniger Freiheit leben als Männer, ihr eigenes Ding durchzuziehen. Klar, jetzt kann man sagen, sie kennen es ja auch nicht anders und so. Aber mir ist klar geworden, dass alle Menschen auf der Welt vereint, das Beste aus ihrer Ausgangssituation machen zu wollen. Hat man das erst mal geschafft und geht relativ positiv durchs Leben, kann man auch beginnen all seine Kraft dazu zu nutzen, diese Welt zu einem toleranteren Ort mit weniger Hass und mehr Liebe zu machen. So gesehen hat mich der Kontakt zu den Menschen im Students' Home schon mal eine Lebenslektion gelehrt.
Ich bin trotzdem sehr froh, dass ich während der Sommerferien auch mal die kleine christliche Blase verlassen konnte, um noch mehr Diversität in Indien zu entdecken. Es ist verrückt sich vorzustellen, dass Indien flächenmäßig mehr als neun mal größer ist als Deutschland. Wir haben es geschafft, während des Reisens innerhalb von 45 Tagen knapp 194 Stunden im Zug oder Bus zu verbringen. Das sind mehr als acht Tage! Dabei habe ich Verspätungen und Rikscha-Fahrten zum Bahnhof noch gar nicht miteinberechnet. Erst als ich in den Sommerferien die Vielfalt Indiens wirklich erlebte, konnte ich so halbwegs begreifen, wie komplex dieses Land ist. Angefangen haben wir am Traumstrand in Goa, besuchten Großstädte wie Mumbai oder Delhi. Ein paar Tage zuvor ritten wir auf Kamelen durch die Wüste und im Mai befanden wir uns dann im kalten Himalaya in Manali. Es sind so viele Dinge passiert, gute und schlechte. Es war traurig, Armut so nah und echt zu sehen. Gleichzeitig war es einer der schönsten Momente, Straßenkindern Kekse zu schenken oder sich von einem kleinen, bettelnden Jungen das Wäscherei-Viertel in Mumbai erklären zu lassen. Ich habe sehr viele kleine Geschichten erlebt, die ich niemals vergessen werde. Was ich vor allem mitnehme ist die Gewissheit, wie wenig ich nach zehn Monaten in Indien doch vom Land gesehen habe.
Abschließend würde ich also sagen, dass mein Freiwilligendienst mir bewusst gemacht hat, wie riesig und vielfältig diese Welt doch ist. Egal ob ich einer alten Frau im Sari auf den Straßen Delhis oder einem jungen Bänker in Anzug in Kannur begegne, ich habe nicht das Recht, diese Person auf Grund von irgendetwas zu verurteilen. Was ich euch also mitgeben möchte ist, dass es eigentlich unbeschreiblich ist, eine neue Kultur kennen zu lernen. Jede einzelne Person auf dieser Welt ist einzigartig und gleichzeitig unglaublich vielseitig. Auf dieser Welt gibt es genau so viele Wahrnehmungen und Realitäten wie Menschen. Ich bin sehr dankbar, so viele Erfahrungen gesammelt zu haben, die mich ein kleines bisschen weiser gemacht haben, also noch vor zehn Monaten.
നന്ദി heißt übrigens Danke auf Malayalam. :)

