Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)
Mitte Februar hieß es für uns Indien-Freiwillige Halbzeit unseres Freiwilligendienstes und damit war es auch Zeit für unser Zwischenseminar. Stattgefunden hat dieses in Chennai und wurde geleitet von Kathrin, die extra dafür nach Indien gekommen war. Außer uns EMS-Freiwilligen waren dort noch drei Freiwillige von anderen Organisationen, die schnell in unsere Gruppe integriert waren.
Auf dem Seminar durften wir einerseits unsere bisherigen Erfahrungen reflektieren und miteinander teilen, aber auch die zweite Hälfte unseres Freiwilligendienstes planen. Und während unsere Erfahrungen im Großen und Ganzen positiv waren, so beschäftigte viele von uns doch die große Frage nach dem Sinn und wir haben viel darüber diskutiert, ob solche Freiwilligendienste im Großen und Ganzen eher gut oder eher schlecht sind.
Das klingt für euch vermutlich im ersten Moment etwas unverständlich, daher lasst mich etwas weiter ausholen. Die meisten von uns haben sich für einen Freiwilligendienst entschieden mit der Motivation, helfen zu wollen / etwas verändern zu wollen / der Ungerechtigkeit auf der Welt etwas entgegenzusetzen. Dieser Zahn wurde uns relativ schnell gezogen, als während der gesamten Vorbereitungszeit immer wieder betont wurde, dass unser Dienst nicht dazu dient, zu helfen, sondern zu lernen. Wir als kleine Einzelpersonen werden keinen großen Unterschied machen und falls doch, heißt das noch lange nicht, dass dieser dann auch wirklich gut ist. Das war im ersten Moment sehr ernüchternd und doch haben wir alle tapfer genickt, die neue Realität akzeptiert und in aller Welt fleißig verkündet, dass wir nicht helfen wollen, sondern lernen.
Bis wir dann am eigenen Leib erfahren haben, was das eigentlich heißt. Während wir die ersten Monate noch damit beschäftigt waren, uns an unsere neuen Lebensumstände zu gewöhnen und unseren Platz zu finden, so hatten wir inzwischen doch die ein oder andere Sache entdeckt, die wir gerne verändert hätten, ohne zu wissen, ob und wie das überhaupt gehen könnte. Und auch wenn wir tapfer weiterhin erzählt haben, dass wir ja nur lernen wollen, war im Hinterkopf immer diese leise Stimme, die da flüsterte: „Aber ein bisschen was verändern würde ich trotzdem gerne.“
Nur zum Lernen in ein fremdes Land zu reisen und sich dort auf Kosten der Einsatzstellen ein schönes Leben zu machen, fühlte sich doch ziemlich egoistisch an. Schließlich hätten wir dann auch einfach Work and Travel machen können, aber so verantwortungslos sind wir ja schließlich nicht. Oder etwa doch? Schließlich lassen wir uns diesen Dienst auch noch bezahlen. In Deutschland hätte es auch genug Organisationen gegeben, die Hilfe gebraucht hätten und das hätte deutlich weniger Kosten und Umweltschäden verursacht. Warum genau musste es bei uns dann das Ausland sein? Sind wir etwa tatsächlich einfach nur egoistisch?
Natürlich gibt es auch Argumente, die für einen internationalen Freiwilligendienst sprechen, von denen meiner Meinung nach die beiden größten der kulturelle Austausch und die Auseinandersetzung mit Thematiken wie Rassismus, Diskriminierung und Weißen-Privilegien sind. Ohne diesen Freiwilligendienst hätten ich persönlich mich niemals so tief mit diesen Themen auseinandergesetzt. Jetzt kann ich mein Wissen und meine Erfahrungen nutzen und zum Multiplikator werden, indem ich auf diese Problematiken aufmerksam machen. Trotzdem lassen sich auch die Nachteile des internationalen Freiwilligendienstes nicht einfach wegdiskutieren und so endeten auch unsere Diskussionen während des Seminars ohne endgültiges Ergebnis.
Doch trotz aller Diskussionen und Fragen, vielleicht auch genau deshalb, hatten wir auf dem Seminar eine sehr gute gemeinsame Zeit und ich kehrte voller Elan nach Nandyal zurück. Bereits in den Wochen vor dem Seminar hatte ich mich im Boarding Home sehr wohl gefühlt mit meinen derzeitigen Aufgaben und ich freute mich schon auf die zweite Hälfte meines Einsatzes.
Nachdem ich mich endgültig dagegen entschieden hatte, Englischunterricht an der Girls High School zu geben, habe ich mir stattdessen andere Aufgaben gesucht und unter anderem den Computer im Hostel etwas auf Vordermann gebracht. Besonders zu den älteren Mädchen hat sich über die Zeit eine gute Freundschaft entwickelt, wodurch nicht nur die Gespräche deutlich tiefgründiger wurden, sondern ich auch bei meinem täglichen Sportprogramm Gesellschaft bekommen habe, was so auch gleich viel mehr Spaß gemacht hat.
In der Kirche hatte die Fastenzeit begonnen, was bedeutete, dass nun zusätzlich zum Sonntagsgottesdienst auch Mittwoch- und Freitagabend kleinere Andachten und Gebetsgottesdienste stattfanden, zu denen ich gemeinsam mit den Mädchen gehen konnte. Für die Zeit bis zu den Sommerferien im April, in der nur noch halbtags Schule war, hatte ich außerdem gemeinsam mit Bhagya bereits geplant, dass ich Computerunterricht geben sollte, worauf die Mädchen und ich uns gleichermaßen gefreut haben.
Da wir im Boarding Home eine englische und eine Telugu-Tageszeitung bekommen haben, wurde dort auch relativ oft über die aktuellsten Neuigkeiten gesprochen. Auch über Corona wurde immer häufiger berichtet und während wir das am Anfang kaum ernst genommen haben, so wurde das Thema irgendwann auch bei uns im Boarding Home immer aktueller. Während in anderen indischen Bundesstaaten bereits Schulen geschlossen wurden, lief bei uns in Andhra Pradesh das Leben aber zunächst wie gewohnt weiter. Aus Deutschland hörte ich immer wieder von Freunden und Familie über die neuesten Maßnahmen und Zahlen und war eigentlich ganz froh, das alles nur aus der Ferne berichtet zu bekommen.
Doch auch uns Freiwillige sollte das ganze Chaos bald einholen, in meinem Fall ausgerechnet während der lang ersehnten und geplanten ersten Computerstunde für die Mädchen. In Form einer E-Mail und später auch telefonisch wurde uns Freiwilligen mitgeteilt, dass wir aufgrund der vielen Flugstreichungen und Grenzschließungen nach Deutschland zurückgeholt werden und unsere Einsatzstellen schnellstmöglich verlassen sollten. Und damit kam meine Zeit in Indien – vier Monate früher als geplant und für mich völlig überraschend – zu einem jähen Ende.
Während es anfangs so aussah, als müsste ich noch am selben Abend Nandyal verlassen und ich bereits alle meine Sachen irgendwie in meinen Rucksack geschmissen hatte, bekam ich zum Glück einen Tag Aufschub und hatte noch einen letzten kostbaren Tag in meiner Einsatzstelle. Den habe ich vor allem damit verbracht, noch einmal Zeit mit den Mädchen und auch mit Bhagya und Keziah zu verbringen. Am Abend hat Bhagya es sogar noch geschafft, eine kleine Farewell-Function zu organisieren, um mich „gebührend“ zu verabschieden. Trotzdem fiel der Abschied sehr schwer und ich stieg nur sehr ungern in den Bus, der mich nach Chennai bringen sollte.
Exakt einen Monat nach dem Zwischenseminar haben wir uns also wieder alle in Chennai getroffen, diesmal aber, um dort auf unseren Rückflug zu warten. Da sich unsere Flugdaten noch viermal verschoben haben, hatten wir in Chennai schließlich noch fast zwei Tage Zeit, bevor wir dann mit einem der letzten internationalen Flüge aus Indien über Dubai zurück nach Düsseldorf geflogen sind. An dieser Stelle auch noch einmal vielen Dank an das gesamte ÖFP-Team und alle weiteren Beteiligten, die keine Kosten und Mühen gescheut haben, uns immer neue Flüge zu finden und zu buchen.
Was bleibt, sind einmalige Erinnerungen und Erfahrungen, die ich in Nandyal und bei meinen Reisen durchs Land sammeln konnte. Ich durfte eine mir völlig fremde Kultur kennenlernen und mich dadurch auch noch einmal mehr damit auseinandersetzen, wie sehr ich eigentlich durch meine eigene Kultur geprägt bin. Ich habe vieles gelernt, angefangen damit, wie man Reis mit der Hand isst, über Telugu-lesen, bis hin zu Buchführung mit richtigen Büchern (nicht die virtuellen im Computerprogramm). Ich habe viele interessante Gespräche geführt und noch einmal einen völlig neuen Blick auf viele Dinge kennengelernt. Im Moment ist das alles noch ein wenig überschattet vom „Aber es hätte noch so viel mehr sein sollen“-Gedanken und auch etwas Wehmut, dass ich viele Pläne nicht mehr in die Tat umsetzen konnte. Ich weiß auch nicht, ob und wann sich das legt. Doch trotz aller Sinnfragen und Rückholchaos bin ich in erster Linie froh, dass ich diese einmalige Chance bekommen habe und wundervolle, wenn auch teilweise herausfordernde, sechs Monate in Indien verbringen durfte.
An dieser Stelle noch einmal ein großes Dankeschön an alle, die das ermöglicht haben und mich begleitet haben, egal in welcher Form. Danke auch euch fürs Lesen dieses Blogs. Ich hoffe es hat euch gefallen und ich konnte euch ein paar Denkanstöße geben.
Passt auf euch auf und bleibt behütet.
Eure Sarah
PS.: Wer gerne mehr von mir lesen möchte, darf gerne auf meinem privaten Blog www.losprobiert.de vorbeischauen, den ich während meiner Indien-Zeit gegründet habe und mit dem ich gerne Menschen ermutigen möchte, einfach mal Dinge auszuprobieren, statt immer nur ewig darüber nachzudenken (wie zum Beispiel seinen Job zu kündigen und ein Auslandsjahr in Indien zu machen ?)