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14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Zur Feier des Republic Day wird an der Holy Cross Girls High School die indische Flagge gehisst (Foto: EMS/Osenberg)
Zur Feier des Republic Day wird an der Holy Cross Girls High School die indische Flagge gehisst (Foto: EMS/Osenberg)
02. März 2020

Kulturschock?

Sarah

Sarah

Indien
unterstützt ein Mädchenheim
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Nachdem ich euch bereits von einigen einzelnen Aspekten meines Aufenthaltes hier in Nandyal berichtet habe, geht es heute etwas weiter weg vom Offensichtlichen, hin zu den Dingen, die eher unterschwellig passieren. Ein großer Teil dieses Freiwilligendienstes ist es schließlich auch, die Kultur des Gastlandes besser kennenzulernen.

Aber was ist das überhaupt? Kultur? Gibt es überhaupt DIE deutsche Kultur und DIE indische Kultur? Wenn ihr meinen Blog bisher aufmerksam gelesen habt, dann sollte euch klar sein, dass die Antwort darauf ein deutliches nein ist. Gerade Indien ist viel zu groß und in sich selbst viel zu verschieden, als dass sich das irgendwie zusammenfassen ließe. Da gibt es Unterschiede zwischen Nord und Süd, zwischen arm und reich, zwischen Land und Stadt, zwischen Religionen, zwischen Bundesstaaten und und und. Es gibt verschiedene Sprachen, verschiedene Bräuche, verschiedene Feste und verschiedene Lebensformen. Wenn ich euch von kulturellen Unterschieden berichte, dann berufe ich mich (sofern nicht anders erwähnt) wieder hauptsächlich auf meine Einsatzstelle hier in Nandyal.

--------------- Sister, Auntie, Madam, Guest? ---------------------

Wie ich in meinem ersten Blogeintrag bereits angedeutet habe, spielen Namen hier eine deutlich geringere Rolle, als sie das bei uns in Deutschland tun. Wie jemand angesprochen wird, hängt vor allem mit der Stellung einer Person zusammen. Autoritätspersonen werden meist mit „Madam“ oder „Sir“ angesprochen, gleichaltrige Personen mit „Akka“ (Schwester) oder „Ana“ (Bruder) und ältere Personen mit „Auntie“ oder „Uncle“. Es kann aber auch sein, dass sich die Berufsbezeichnung in der Anrede niederschlägt („Babu“ für Pastoren, „Sister“ für Nonnen oder Krankenschwestern, …). Der Name wird erst dann entscheidend, wenn mehrere Personen des gleichen Standes vertreten sind und klargestellt werden muss, wer gemeint ist. Dann wird die Anrede meist einfach an den Namen angehängt, so dass es einigermaßen gut klingt und aussprechbar bleibt. Aus Sarah wird dann also Sarakka, aus Rani Ranakka, aus Solomon Solomonsir und so weiter.

Je länger ich hier bin, desto mehr wird mir klar, wie sehr diese Ansprache die Beziehungskultur hier widergibt. Die Stellung zueinander ist im täglichen Miteinander unheimlich wichtig und damit einher gehen gefühlt tausend ungeschriebene Gesetze, über die ich immer wieder stolpere. Es dreht sich sehr viel darum, wer wem über- oder untergeordnet ist. Damit einher geht dann, wie man sich einer anderen Person gegenüber verhält, welche Aufgaben man erledigt (oder eben nicht) oder auch viel banalere Dinge, wie wo man sich hinsetzt.

Ich habe hier immer ein bisschen eine Sonderrolle, mit der ich mich nach wie vor nicht so ganz anfreunden kann. Als „international guest“, wie ich so gerne bezeichnet werde (wobei es da gefühlt vor allem um meinen Status als Weiße und damit privilegierte Person geht), habe ich völlig unverdient eine der höchsten Stellungen inne, die man hier so haben kann. Eigentlich ist es für jemanden dieser Stellung wohl üblich, sich mehr oder weniger den ganzen Tag bedienen zu lassen und manche Mädchen bestehen nach wie vor darauf, dass es sich für mich nicht gehört, mein Zimmer zu kehren, meinen Teller abzuwaschen, Wasser zu holen, etc. Auch passiert es selten bis nie, dass mir jemand widerspricht oder mir sagt, dass ich etwas falsch gemacht habe (stattdessen wird es nicht selten „heimlich“ im Nachhinein korrigiert). Im ersten Moment klingt das vielleicht gar nicht so schlecht und wenn ich mich darauf ausruhen würde, könnte ich mir sicher ein schönes Leben machen.

Im Vorbereitungsseminar haben wir uns aber recht intensiv mit der Kolonialisierung und dem daraus resultierenden Rassismus (Besserstellen von Weißen/Privilegierten gegenüber People of Colour/Unterprivilegierten) auseinandergesetzt und uns auch damit beschäftigt, was wir tun können, um diese Denkmuster aufzubrechen. Würde ich diese Sonderbehandlung also einfach so annehmen, dann würde ich die Überzeugung, dass ich als Weiße etwas Besseres verdient habe als die Personen um mich herum, nur noch weiter vertiefen. Um das zu verhindern, müsste ich jede Form der Bevorzugung also vehement ablehnen.

Das ist aber leider nicht so einfach wie es klingt. Zunächst einmal bin ich hier ja trotz allem noch Gast und möchte meine Gastgeber nur ungern vor den Kopf stoßen oder in Probleme bringen. Im Boarding Home selbst bin ich meistens sehr konsequent darin, die Sonderbehandlung abzulehnen und dank der Tatsache, dass vor mir hier bereits andere Freiwillige waren, die das auch so gemacht haben, funktioniert das inzwischen relativ gut. Allerdings hat das jetzt schon mehrfach zu der Situation geführt, dass wichtige Gäste (Pastoren, Polizisten, …) kamen, die ganz erschrocken sind, wie „schlecht“ ich hier behandelt werde. Dadurch stand dann das ganze Boarding Home schlecht da, was ich natürlich nicht möchte.

Ähnlich ist die Situation, wenn ich irgendwo außerhalb bin und mir übergeordnete Personen anordnen, dass ich besonders behandelt werde (d.h. extra Essen bekomme, auf einem Stuhl sitzen darf während alle anderen auf dem Boden sitzen, extra geehrt werde, …). Wenn ich mich da widersetze, bringe ich entweder die Person in Schwierigkeiten, die die Anordnung ausführt, oder widersetze mich einer mir übergeordneten Person, was hier schon ein sehr großer Tabubruch ist.

Wie gesagt bin ich immer noch am Lösungen suchen, wie ich mit diesem Zwiespalt am besten umgehen kann. Häufig ist das eine regelrechte Gradwanderung, die mir leider nur recht selten gelingt. Das klingt vielleicht alles kompliziert und auch etwas negativ, was so aber nicht stimmt. Ich kann nur aus meiner Perspektive als Außenstehende berichten und unter diesem Blickwinkel ist es für mich schlicht nicht möglich zu verstehen oder gar zu beurteilen, was es heißt in dieser starke Beziehungs- und Machtorientierung wirklich zu leben und welche Vor- und Nachteile das für die Menschen hier mit sich bringt.

----------------------------- Arrangierte Liebe?  -------------------------------------

Sehr groß sind die kulturellen Unterschiede auch, wenn es um Geschlechterrollen geht. Das Thema „Frauen in Indien“ ist definitiv ein sehr großes und sehr sensibles Thema, zu dem es unglaublich viele Vorurteile und Vorbehalte gibt. Und auch dieses Thema besteht wieder aus unglaublich vielen Facetten, die sich unmöglich pauschal als gut oder schlecht zusammenfassen lassen.

Zum Beispiel werde ich immer wieder von den Mädchen angesprochen, warum ich denn noch nicht verheiratet bin und wann meine Eltern mich denn endlich verheiraten wollen. Die Worte „arrangierte Ehe“ haben bei mir am Anfang erst einmal alle Alarmglocken losläuten lassen, aber je mehr ich mit den Mädchen und Frauen hier darüber gesprochen habe, desto mehr hat sich meine Sicht auf die Dinge relativiert.

Für die meisten der Mädchen hier ist es völlig selbstverständlich, dass die Eltern mit Hilfe von Vermittlungsagenturen, die anhand gesellschaftlichen Stands, Berufs, Einkommens und persönlicher Vorlieben geeignete Kandidaten heraussuchen, den zukünftigen Bräutigam finden. Zunächst wird der potenzielle Ehemann aber zur Familie des Mädchens eingeladen und in den meisten Fällen darf das jeweilige Paar dann nach mehreren Treffen selbst entscheiden, ob es zu einer Hochzeit kommt. Solange die aus elterlicher Sicht wichtigen Faktoren wie Stand, Einkommen und Beruf stimmen, sind sogenannte love marriages (Hochzeit aus Liebe) oft auch kein Problem. Für mich ist dieses ganze System zwar nach wie vor etwas befremdlich, aber das geht den Mädchen hier genauso, wenn ich ihnen erzähle, dass man in Deutschland in der Regel jahrelang eine*n feste*n Freund*in hat, bevor man heiratet.

Schwieriger finde ich, dass die Mädchen häufig ab dem Moment, in dem der Termin für die Hochzeit steht, nicht länger zur Schule oder ins College gehen. Kinderhochzeiten (also alles unter 18 Jahren) sind in ganz Indien offiziell verboten, aber wie ich das bisher mitbekommen habe, wird nach dem 18. Geburtstag (und manchmal trotz Verbot auch schon vorher) recht schnell versucht, die Mädchen zu verheiraten. Auch hier im Boarding Home ist es jetzt schon zwei- oder dreimal passiert, dass ein Mädchen irgendwann mitten im Schuljahr einfach nicht mehr da war, weil sie im Sommer heiratet. Das Ganze funktioniert auch in die andere Richtung: Wenn ich die Mädchen frage, was sie machen, wenn sie die Schule/das Schuljahr nicht bestehen, dann bekomme ich meistens zur Antwort, dass sie ihre Eltern dann bitten wollen, sie zu verheiraten.

Generell habe ich aber schon das Gefühl, dass die meisten Eltern die Wünsche ihrer Töchter respektieren und häufig mit der Hochzeit auch warten, bis die Schule oder das College abgeschlossen ist. Für die Mädchen und auch für die verheirateten Frauen, mit denen ich bisher gesprochen habe, scheint die arrangierte Ehe ein durchaus legitimer Weg in ein glückliches Leben zu sein und nicht der ausweglose Weg in die Unterdrückung, wie es in den westlichen Medien häufig dargestellt wird. Außerdem ist das hier im ländlich geprägten Nandyal sicher noch einmal eine ganz andere Situation als in den Städten, wo nach allem, was ich gehört habe, love marriages deutlich häufiger vorkommen und die Frauen bei der Hochzeit tendenziell auch schon etwas älter sind.

------------------------------- Mann = Gefahr?  ---------------------------------------

Ein immer wieder sehr heiß diskutiertes Thema ist auch die Sicherheit und der Wert des Lebens von Frauen in Indien. Immer wieder tauchen in den internationalen Schlagzeilen Berichte von Massenvergewaltigungen, gewaltsamen Übergriffen und/oder Morden an Frauen auf und Kritik wird laut, dass der indische Staat dem nichts entgegenzusetzen hat und sich nicht genug für die Sicherheit von Frauen einsetzt.

Für mich persönlich wurde das Thema aktuell, als vor knapp drei Monaten in Hyderabad eine Frau von vier Männern vergewaltigt und verbrannt wurde, was in ganz Indien für große Empörung gesorgt hat. Als Antwort darauf wurden mehrere neue Gesetze erlassen (zum Beispiel der Disha Act in Andhra Pradesh, laut dem Vergewaltigungstäter innerhalb von 21 Tagen verurteilt werden sollen). Außerdem wurden überall bestehende und neue Angebote der Polizei, für die Sicherheit von Frauen zu sorgen, bekanntgemacht (nächtlicher Heimfahrservice, spezielle Notrufnummern und Apps, spezielle Polizeieinheiten nur mit Polizistinnen, …). Auch wenn sich über Sinn und Unsinn mancher dieser Aktionen sicherlich streiten lässt, habe ich nicht das Gefühl, dass von offizieller Seite her irgendjemand mit der Thematik zu leichtfertig umgeht, sondern dass wirklich versucht wird, die Sicherheit von Frauen zu verbessern.

Auch im Boarding Home hat das besagt Ereignis recht große Wellen geschlagen und wurde eine Zeit lang fast jeden Tag diskutiert. Dabei ist verständlicherweise, aber aus meiner Sicht nicht ganz unproblematisch, teilweise eine sehr männerfeindliche Stimmung entstanden und mit einem Mal wurde jeder Mann und jeder Junge zu einem potenziellen Täter, von dem man sich, wenn irgendwie möglich, besser fernhalten sollte.

Generell wurden mir zu Beginn meiner Zeit hier ein paar „Verhaltensregeln“ an die Hand gegeben, um gefährliche Situationen zu vermeiden und mich nicht ungewollt zur Zielscheibe zu machen. So soll ich möglichst wenig und auf gar keinen Fall im Dunkeln allein unterwegs sein, immer lange Hosen und hochgeschlossene Oberteile tragen, das Dekolleté zusätzlich mit einem Schal oder Tuch bedecken, keinen Blickkontakt mit Männern aufnehmen und wenn möglich nicht allein mit Männern sprechen.

Wie groß die Gefahr tatsächlich ist, kann ich ehrlich gesagt nicht beurteilen. Ich habe mich bisher zu keinem Zeitpunkt wirklich unsicher gefühlt, was aber vielleicht auch genau daran liegt, dass ich mich meistens an die oben genannten Regeln halte. Vor allen Dingen habe ich bisher – egal ob in Nandyal oder auf Reisen – eine unglaubliche Hilfsbereitschaft von Frauen wie Männern erlebt, von der ich nach wie vor wirklich beeindruckt bin.

------------------------------------- Und sonst? -------------------------------------------

Das waren nur ein paar kleine Einblicke in kulturelle Themen, die für mich hier aktuell geworden sind. Tatsächlich gibt es noch unendlich viele kulturelle Unterschiede, die mich immer wieder zum Lachen und manchmal auch zum Verzweifeln bringen. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass Schule hier zu 90% daraus besteht, die Antworten auf Fragen auswendig zu lernen. Oder die für mich völlig unfassbare Fähigkeit der Menschen hier, scheinbar an jedem Ort, zu jeder Zeit, bei jeder Lautstärke und in jeder denkbaren Position einfach schlafen zu können. Oder die Tatsache, dass wenn irgendwo eine feste Uhrzeit angegeben ist, das entsprechende Event gefühlt frühestens zwei Stunden später startet.

Und während mir manche kulturellen Unterschiede nach wie vor Schwierigkeiten bereiten, habe ich mich an andere Sachen inzwischen problemlos angepasst. Das obligatorische Kopfwackeln als Universalantwort für alles werde ich in Deutschland zum Beispiel ziemlich vermissen.

Ich hoffe ich konnte euch einen kleinen Einblick in die Kultur hier geben und möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass alles, was ich hier berichtet habe, nur meine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse und auch die nochmal im großen Stil verallgemeinert sind. Also bitte wundert euch nicht, wenn euch jemand anderes etwas ganz anderes berichtet oder der Inhaber vom indischen Restaurant bei euch zu Hause vielleicht überhaupt nicht dem entspricht, was ich hier beschrieben habe. Schließlich tragen „wir Deutschen“ auch nicht alle den ganzen Tag nur Dirndl oder Lederhose und trinken Bier, wie jemand, der in Deutschland ausschließlich auf dem Oktoberfest war, vielleicht denken könnte.

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Polizistinnen halten im Boarding Home einen Vortrag über wichtige Notrufnummern für Frauen (Foto: EMS/Osenberg)
Polizistinnen halten im Boarding Home einen Vortrag über wichtige Notrufnummern für Frauen (Foto: EMS/Osenberg)
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Eine christliche Hochzeit in Nandyal (Foto: EMS/Osenberg)
Eine christliche Hochzeit in Nandyal (Foto: EMS/Osenberg)