Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt
Von Plänen in Indien
Liebe Blog-Leser:innen,
was soll ich sagen, ich habe lange nichts von mir hören lassen. Der Grund dafür war, dass ich meinen letzten Blogeintrag mit dem Versprechen beendet hatte, im nächsten über den Tagesablauf und das Alltagsleben in meiner Einsatzstelle zu berichten. Also habe ich die ersten Wochen den Blogeintrag vor mir hergeschoben, da ich noch nicht das Gefühl hatte ausreichend angekommen und mich im neuen Alltag eingefunden zu haben, um entsprechend darüber zu berichten. Dazu sollte es aufgrund einer Reihe an unvorhergesehenen Ereignissen auch nicht kommen. Doch von vorne.
Wie ich bereits berichtet hatte, wurde mein Visum für Chennai statt Nandyal ausgestellt, was sich leider in einem anderen Bundesstaat, nämlich Tamil Nadu statt Andhra Pradesh befindet. In Indien müssen sich Ausländer innerhalb von 14 Tagen beim FRRO registrieren, bzw. zumindest den Antrag dafür stellen. Das haben wir gemacht, allerdings wurde dann Ende November recht kurzfristig klar, dass ich nach Chennai reisen muss, um dort einen neuen Registrierungsantrag zu stellen. In dem Zuge wurde mir auch mitgeteilt, dass die Regelungen mittlerweile sehr streng sind und ich ohne die Registrierung weder Ende Dezember zu meinem Zwischenseminar reisen dürfe noch den im Anschluss geplanten Urlaub mit Mitfreiwilligen über Weihnachten und Neujahr verbringen könne. Also habe ich Sachen für 10 Tage Aufenthalt zusammengepackt und dann ging es mit dem Nachtbus für ca. 9 Stunden zurück nach Chennai, nachdem ich gerade einmal vier Wochen an meiner Einsatzstelle war.
In Chennai habe ich auch direkt bemerkt, wie sich mein Temperaturempfinden verändert hatte, da ich plötzlich bei regnerischem Wetter und 27°C gefroren habe wie ein Schneider. Mit der tatkräftigen Unterstützung meines Mentors und weitere Menschen der CSI haben wir uns die kommenden Tage durch nicht enden wollende Dokumente und Formalien gearbeitet. Da die aktuelle Regierung durch eine hindunationalistische Partei gebildet wird, ist der Umgang von Regierungseinrichtungen mit der christlichen Minderheit nochmal zusätzlich angespannter. Nachdem wir es nach knapp zwei Wochen endlich geschafft hatten, dass ich zum Interview im FRRO Chennai empfangen wurde und uns versichert wurde, dass die Registrierung innerhalb von wenigen Tagen da sein würde, kam das nächste unvorhergesehene Ereignis: Der Zyklon Michaung. Dieser ist in der Nacht vom 03. Dezember auf den 04. Dezember über Chennai hinweggefegt und hat massiven Starkregen mit sich gebracht. Viele Stadtteile von Chennai wurden überflutet, in manchen stand das Wasser bis zum ersten Stockwerk. Das öffentliche Leben wurde lahmgelegt, inklusive Schulen, Bürogebäuden, dem Flughafen und dem Zugverkehr. In vielen Teilen Chennais war die Stromversorgung für mehrere Tagen komplett unterbrochen und es gab Essensnotrationen, die in die stark betroffenen Stadteile von der Polizei mit Booten gebracht wurden.
Im Vorhinein sind wohl 18.000 Menschen evakuiert worden. Auch in manchen Krankenhäusern war die Situation fatal da dort das Wasser ebenfalls bis zum ersten Stock stand und die Patienten in die oberen Stockwerke verlegt werden mussten. Im Synod Center war die Situation glücklicherweise glimpflich, da es hoch gelegen ist. Das Gebäude war komplett vom Wasser eingeschlossen, welches auf dem Gelände teilweise hüfthoch stand. Die neben dem Guesthouse in einem Hostel untergebrachten jungen Frauen konnten, da im Hostel Wasser war, im Guesthouse Unterschlupf finden, was mir einige nette Kontakte und gute Gespräche eingebracht hat. Der Strom ist bei uns nur für ca. anderthalb Tage ausgefallen, da dann glücklicherweise der Notstromgenerator funktioniert hat und mit Lebensmitteln war das Center auch für ein paar Tage im Voraus versorgt.
Grundsätzlich ist es für die Menschen in Chennai nichts Neues, von Überflutungen betroffen zu sein. Diese Wassermassen jedoch schienen, als sie auch nach mehreren Tagen noch unverändert vor dem Center standen, dramatischer zu sein als sonst. Teilweise wurden Vergleiche gezogen mit der Überflutung von 2015, wobei diese insgesamt deutlich mehr Todesopfer gefordert hat. Vor Allem in der ersten Nacht mit dem Stromausfall habe ich die Situation dennoch als gespenstisch empfunden und es hat mich gleichzeitig betroffen gemacht zu wissen, dass hier in Indien die Auswirkungen der Klimakrise so deutlich spürbar sind und ich, wenn die Situation gefährlicher geworden wäre, bequem in ein Flugzeug zurück nach Deutschland hätte steigen können, während die Menschen vor Ort die Option nicht haben, so einfach ihre Heimat zu verlassen. Zudem fand ich es erschreckend zu sehen, dass kein einziger Nachrichtensender in Deutschland auch nur in einer Randnotiz über diese Geschehnisse berichtet hat, was mir die Selektion unserer Nachrichten, die ja zwangsläufig aufgrund der Masse an Informationen stattfindet, sehr deutlich vor Augen geführt hat.
Schlussendlich haben die Regierung und teilweise auch Privatleute das Wasser abgepumpt. Wie mir erzählt wurde hat auch hierbei die finanzielle Situation eine große Rolle gespielt, da man sich mit den entsprechenden finanziellen Mitteln schneller als die anderen das Abpumpen des Wassers leisten konnte. Ein positiver Moment aus dieser surrealen Situation war für mich der erste Abend, an dem der Strom wieder verlässlich da war und alle Familien, die im Synod Center wohnen beisammengesessen und Spiele gespielt haben. Die Erleichterung war allen anzumerken und es war schön zu sehen, wie die Menschen in einer solchen Ausnahmesituation näher zusammengerückt sind, da solche Abende, in denen alle beisammen sind, sonst eigentlich nicht vorkommen.
Nachdem die Wassermassen einigermaßen beseitigt wurden, kam endlich meine Registrierung für Tamil Nadu und ich bin voller Vorfreude auf die Mädchen nach knapp drei Wochen in Chennai mit dem Nachtbus wieder nach Nandyal gefahren, um dort die Registrierung übertragen zu lassen. Die Freude war groß, pünktlich zum Semi-Christmas Gottesdienst (hier wird nicht einfach nur Weihnachten gefeiert, sondern auch mehrere Etappen vor Weihnachten, bei denen man sich auch schon fröhliche Weihnachten und frohes neues Jahr wünscht) wieder zurück im Hostel zu sein. Am nächsten Tag kam dann die Ernüchterung: Ich konnte trotz meiner Registrierung nicht in Nandyal bleiben. Also bin ich, keine 48 Stunden nach meiner letzten Nachtbusfahrt wieder im Bus nach Chennai gesessen. Die Menschen im Synod Center haben alle Hebel in Bewegung gesetzt eine gute Lösung für mich zu finden und so wurde am Tag vor meiner Abreise zum Zwischenseminar beschlossen, dass ich an eine andere Einsatzstelle in Tamil Nadu verlegt werden würde.
Vom 17.12 – 23.12 hat dann erstmal das Zwischenseminar für weltwärts-Freiwillige aus Südindien stattgefunden. Insgesamt waren wir 19 Freiwillige von fünf Entsendeorganisationen und konnten auf dem Seminar noch weitere Dinge über Südindien lernen, sowie durch kleine Ausflüge rund um Azhagiapandipuram. Das Schönste am Seminar war der gegenseitige Austausch und das Wiedersehen mit Luisa, meine EMS-Mitfreiwillige die ich davor das letzte Mal beim zweiten Vorbereitungsseminar Ende Juli in Stuttgart gesehen hatte. Für Luisa und mich war es auch sehr besonders mehr von Indien zu sehen, da wir beide bisher nur Chennai und unsere Einsatzstelle kennengelernt hatten. Zumal war der Standort vom Zwischenseminar fast am südlichsten Ende von Indien, von Chennai aus fast 15 Stunden Zugfahrt entfernt, sodass wir einen merklichen Unterschied sehen konnten was die Landschaft, das Klima und die gesamte Szenerie betraf.
Nach dem Zwischenseminar sind Luisa und ich gemeinsam mit den drei ELM-Freiwilligen zu unserer ersten Urlaubsreise aufgebrochen über Weihnachten und Silvester. Das war sehr schön und beeindruckend mehr von Indien zu entdecken, sowohl kulinarisch als auch kulturell, gleichzeitig war aber oft ein fader Beigeschmack dabei, in die touristische Welt von Indien einzutauchen. Mit den Erfahrungen und den Alltagsproblemen an unseren Einsatzstellen im Hinterkopf hat sich der Luxus von warmem Wasser oder Essen gehen angefühlt wie eine andere Welt und es ist mir in manchen Momenten sehr schwergefallen, die verschiedenen Eindrücke meiner bisherigen Reise gedanklich unter einen Hut zu bringen. Auch das Wissen jetzt in kurzer Zeit und für europäische Verhältnisse sehr günstig Indien erkunden zu können, während die meisten Mädchen an den Einsatzstellen kaum die nächstgrößere Stadt gesehen haben oder sehen werden, hat die eigenen Privilegien schmerzlich vor Augen geführt.
Zurück in Chennai wurden dann schnell die Pläne für meine neue Einsatzstelle in Nagalapuram finalisiert, zu der ich dann am 08.01 abgeholt wurde. Aufgebrochen bin ich mit gemischten Gefühlen: Einerseits war da Vorfreude auf die neue Einsatzstelle und endlich etwas Sicherheit dort bis zum Ende von meinem Einsatz bleiben zu können, andererseits hatte ich auch ein mulmiges Gefühl nochmal bei Null zu starten, mit dem Ankommen und einer neuen Sprache (Tamil) die ich bis dahin noch gar nicht gelernt hatte, da in Nandyal Telugu gesprochen wird und dem Wissen die Mädchen, die ich in den vier Wochen lieb gewonnen habe, nicht mehr wieder zu sehen.
So, jetzt seid ihr auch wieder auf dem neusten Stand, über meine letzten Erlebnisse hier in Indien. Da ich euch dennoch versprochen hatte über den Alltag im Holy Cross Boarding Home zu schreiben, möchte ich euch diesen Bericht natürlich nicht vorenthalten und euch so gut es geht über die Strukturen zu berichten, wie ich sie in den vier Wochen kennengelernt habe.
Insgesamt wohnen dort etwa 130 Mädchen, davon sind die jüngsten in der dritten Klasse und die ältesten besuchen die 12. Klasse. Erwachsene Bezugspersonen sind vor Allem Bhagyamma, die Warden welche auf dem Gelände mit ihrer Familie wohnt, eine Köchin die morgens und abends für ein paar Stunden da ist, der Watchman, welcher bei Dunkelheit das Gelände bewacht und eine Lehrerin, welche immer zur Study Time kommt um die Mädchen bei den Hausaufgaben zu betreuen. Dadurch dass es für die Menge an Mädchen also sehr wenig Personal gibt, müssen die Mädchen von klein auf viel Eigenverantwortung übernehmen und auch die Älteren bekommen viele Pflichten aufgetragen, um den reibungslosen Tagesablauf zu gewährleisten.
Der typische Tag für die Mädchen startet um 5:00 Uhr in der Frühe mit Duschen, Anziehen, Zähneputzen, etc. und verschiedenen Pflichten auf dem Gelände wie Fegen oder die Pflanzen gießen. Um 06:30 Uhr beginnt die morgendliche Andacht in der nahegelegenen Kirche, bei der auch die Jungs des Boys Hostel anwesend sind, welche meistens eine halbe Stunde dauert. Danach ist Zeit, die zur Schuluniform gehörenden Zöpfe zu flechten, die unerledigten Pflichten vom Morgen nachzuholen und die erste Study Time des Tages zu beginnen. Um 08:00 Uhr gibt es dann Frühstück, welches auf dem Boden sitzend eingenommen wird, im Hof oder in der großen Halle. Um kurz vor neun brechen die Mädchen dann nach einem kurzen Gebet zur Schule auf, welche sich für die Grundschulkinder direkt gegenüber befindet, für die Älteren ein wenig weiter weg. Die College Mädchen haben noch ein wenig länger Zeit. In der Schule essen die Mädchen auch zu Mittag, während die College Mädchen um eins wieder zurück sind im Boarding Home und dort essen.
Die anderen Mädchen kommen um 16:00 Uhr aus der Schule zurück, um sich dann umzuziehen, unerledigte Pflichten zu erledigen und ihre Wäsche zu waschen. Für die jüngeren ist dann auch ein wenig Zeit zu spielen. Zwischen fünf und sechs geht es dann weiter mit der Study Time, in der die Mädchen ihre Hausaufgaben erledigen und für anstehende Klausuren lernen. Samstags ist statt Study Time Bible Study bei der verschiedene Bibelgeschichten erzählt werden. Um 07:30 Uhr gibt es ein gemeinsames Prayer, bei dem gesungen, gebetet und Bibelstellen gelesen werden. Um 08:00 gibt es dann Abendessen bevor nochmal Study Time ist. Bis um 22:00 Uhr müssen die Mädchen dann im Bett liegen, wobei die Betten hier für die Mädchen Bastmatten auf dem Boden in der großen Halle sind. Samstags ist auch Schule und sonntags ist von 07:00 Uhr bis ca. 10:00 Gottesdienst und für die jüngeren Mädchen zur gleichen Zeit Sunday School in der sogenannte Action Songs, also christliche Lieder mit Choreographie und Bibelgeschichten beigebracht werden.
Danach gibt es ein spätes Frühstück und die Mädchen haben Zeit zu lernen, spielen, sich gegenseitig Mehendis zu malen oder sich von der anstrengenden Woche auszuruhen, wenn es kein besonderes Programm wie zum Beispiel den Girl Child Day gibt. An dem Tag bekommen manche Mädchen auch Besuch von ihrer Familie. Wie ihr vielleicht beim Lesen auch schon gemerkt habt, ist der Tagesablauf wirklich sehr streng und voll, besonders für die Kleinen. Viel Spaß für Freizeit und sich austoben bleibt bei dem langen Tag nicht. Mein Tagesablauf sah so aus, dass ich morgens zur Andacht mitgekommen bin und danach den Mädchen beim Haare machen und lernen, vor Allem beim englischen Lesen üben, geholfen habe. Wenn die Mädchen in der Schule waren, hatte ich Zeit zum Waschen, Tagebuch schreiben, lesen oder telefonieren. Ansonsten konnte ich ab und zu Bhagyamma im Büro helfen und eigentlich wäre mit der zeit Englischunterricht in einer Schule angedacht gewesen. Wenn die Mädchen zurückkamen, konnte ich mit ihnen spielen und hab wieder bei den Hausaufgaben geholfen bzw. war beim Abendprayer dabei. Für die Sonntage habe ich die Sunday School für mich entdeckt, da die Action Songs hier das sind was einer Zumba Class am nächsten kommt :)
Ich hoffe ihr habt es bis hierher geschafft und der kleine Einblick war interessant für euch. Mittlerweile bin ich seit vier Wochen an meiner neuen Einsatzstelle, dem Women Workers‘ Training Center in Nagalapuram. Aber das ist dann Thema für den nächsten Blogeintrag, auf den ihr hoffentlich nicht noch einmal so lange warten müsst.
Bis dahin ganz liebe Grüße,
Caro
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