info_outline
Chilliernte im April (Foto: EMS/Plischke)
Chilliernte im April (Foto: EMS/Plischke)
20. Juni 2023

Vom Ankommen und dem Umgang mit meinen Privilegien

Merle-Sophie

Merle-Sophie

Indien
Frauenzentrum
zur Übersichtsseite

Es ist der 03. Mai und ich muss feststellen: meine Tage am Centre sind auf jeden Fall gezählt. Das waren sie schon immer und ich selbst habe so gut wie jede Woche nochmal nachgezählt. Ich zählte, um mir vor Augen zu führen wie viel ich noch vor mir habe und wie viel ich schon geschafft habe. Ich schätze, dass sich um die Zeit vor Weihnachten die Intention des Zählens geändert hat. Ich hatte mir mit dem Zählen Mut gemacht und konnte mich auf die nächsten Wochen motivieren. In meinem Kopf sah das dann ungefähr so aus: Jetzt sind schon 3 Wochen um - nochmal 3 Wochen und das sind dann schon 1 1/2 Monate und das wäre dann schon die Hälfte von einem Drittel.

Tage sind vergangen und mit der Zeit, ohne, dass ich es gemerkt hätte, hat sich in meine Kalkulationen ein „nur noch“ eingeschlichen. Ein „nur noch“ in dem Sinne, dass mir die verbleibende Zeit zu kurz vorkam: Ich habe 1/3 geschafft d.h. ich habe nur noch 2/3 hier.

Mittlerweile ist der 17. Juni und ja ich schreibe (bzw. prokrastiniere) sehr lange an diesen Blogeinträgen. Heute zähle ich immer noch die Tage bis zu meiner Abfahrt - so ziemlich 3 Wochen. Meine Gefühle sind eine getrübte Mischung aus Vorfreude, Verlustangst und Unsicherheit.

Zu Beginn des neuen Jahres hatte ich mir einen Plan aufgeschrieben, was bis zum August noch ansteht. Mit dem Zwischenseminar im Februar und einem nachgehängten Städtetrip, einem vermutlichen Besuch von meinem Vater im April und einen Monat langen Sommerferien im Mai, für die wir eine Reise in den Norden angesetzt hatten, hatte ich damals schon das Gefühl, meine Zeit wäre schon so gut wie vorbei. Ich wusste ja wie schnell das alles vorbei gehen wird. Zudem kamen noch ehemalige Freiwillige das Centre besuchen, deren willkommener Besuch meine Zeit im Centre bereicherten.

Durch die vielen Besucher hatte ich mehr Abwechslung in meinem Alltag, was mir sehr gut getan hat. Ich hatte andere Aufgaben als üblich und andere Freizeitgestaltung. Immer, wenn die Besucher wieder gegangen waren, kam es mir ein bisschen so vor, als müsste ich hier erst mal wieder neu ankommen. Generell habe ich das Gefühl, ich bin im letzten Jahr sehr oft im Center angekommen. Das Wort „Ankommen“ hat in diesem Fall sehr viele Bedeutungen für mich.

Körperlich angekommen, bin ich am 8. Oktober. Damals habe ich mich sofort wohl gefühlt und hatte wenig Schwierigkeiten „anzukommen“. Ab den darauf folgenden 3 Wochen sollte ich immer wieder in mein Tagebuch schreiben - ich glaube ich bin jetzt wirklich angekommen! Den Zustand des Ankommens kann man also auf jeden Fall steigern. Für mich fühlte es sich aber eher danach an, dass man mit jedem Moment, bei denen man sich angekommen gefühlt hat, gerade ankommen würde. Ich habe also viele kleine Gefühle des Ankommens gesammelt.

Das letzte mal, wo es mir deutlich bewusst war, dass ich gerade ankomme, war, meine ich, im Februar. Ich hatte mit den jungen Mitarbeitern, nach dem Essen über Insider im Centre gelacht. Das hatte sich richtig schön angefühlt und dabei hatte ich dann auch gedacht, dass ich nun angekommen bin.

Die Besucher des Centers habe ich alle kommen und gehen sehen und bei den Verabschiedungen war ich immer wieder froh, noch weiter hier bleiben zu können. Diese Freude war für mich auch ein Gefühl des Ankommens. Aber gleichzeitig musste ich auch für mich lernen, wieder alleine zu sein und musste mich neu eingewöhnen.

Immer, wenn ich zu lange Zeit in meinem Zimmer verbracht habe und dann aus meinen vier Wänden gehe, fühle ich mich ein bisschen wie gerade ganz neu angekommen. Ich bin dann unsicher und weiß für ein paar Minuten gar nicht wohin mit mir. Mein Zimmer ist so ein guter Rückzugsort für mich, dass ich mich manchmal  zu lange zurückziehe und voll vergessen habe, wo ich bin. Ein Gefühl was meine Mitfreiwillige auch teilt. Mal abgesehen von dem unsicher sein, fühlt sich das total verrückt an, weil man es von zuhause so gar nicht kennt.

Gleichzeitig war es ja von Anfang an ein Ankommen auf Zeit, was das ja auch irgendwie das Gegenteil von dem Wort „ankommen“ im Sinne von einen Ort haben, wo man für immer bleibt, impliziert.

In meiner Zeit hier bin ich ja auch immer wieder abgereist und wieder neu angekommen. Jedes Mal hat es Zeit gebraucht mich wieder an den speziellen Trott des Centre-Alltages zu gewöhnen. Damit meine ich vor allem die absolute Selbstständigkeit und Pflicht, dir die Tagesstruktur selbst aufzubauen und was Nützliches mit dem Tag anzufangen. Außerdem auch den Umgang mit der allein zu verbringenden Freizeit und dem fehlenden Freiheiten, welche man in den vorherigen Wochen des Unterwegsseins hatte. Das alles brauchte auch immer seine Zeit und waren nicht so schöne Gefühle des Ankommens. Diese haben einen aber auch verdeutlicht, wie anders meine Art zu leben im Centre doch ist, als alles was ich davor gewohnt war. Und auch wenn ich das in den Momenten nicht sehen konnte, zeigt es mir die Besonderheit vom Leben im Centre. Ich musste feststellen, dass ich mich an manchen Tagen mehr angekommen gefühlt habe, als an anderen. Insbesondere mein letztes Ankommen im Centre nach den Sommerferien, fiel mir besonders schwer. Mein Wunsch noch mehr von Indien zu sehen, war nur schwer vereinbar mit dem ruhigen Alltag im Centre. Die Sommerferien wurden spontan noch verlängert, sodass es nurmehr wenig zu tun gab für mich. Der Alltag bietet nur wenig Möglichkeiten diesem Freiheitswunsch nachzugehen, sodass die größten Highlights des Tages die Spaziergänge zum Obstmann waren. Aber auch die Zeit ist wieder vergangen und nach einer Woche sind meine Mädchen eingetrudelt, die mir wieder mehr Abwechslung und Ablenkung gebracht haben.

Bevor ich hier her gekommen bin, konnte ich mir nicht vorstellen ein Leben zu leben, in welchem man sich nicht mit seinen Freunden irgendwo im Park treffen kann. Nicht, dass das jetzt das einzig Wichtige wäre, aber hier an einem Ort zu leben, der meine Arbeit und meine Freizeit verbindet, ist schon ein ganz anderes Gefühl. Die Menschen mit denen ich arbeite, ob Vorgesetzte, Mitarbeiter oder Kinder sind auch meine Freunde. Der Ort, wo ich meine Freizeit verbringe, ist der selbe Ort, wo ich auch arbeite. Eine richtige Möglichkeit außerhalb des Centres ein Leben aufzubauen, gibt es nicht wirklich. Zum Einen, weil es keine festgelegten Arbeits- Freizeitzeiten gibt, sodass man irgendwie Tagesausflüge unternehmen könnte und zum Anderen ist es im indischen Dorfleben, wohl auch nicht so ein Ding, vor allem unter Mädchen, sich in der Freizeit mal für Aktionen wie Kaffeetrinken oder zum gemeinsamen Chillen zu treffen. Wenn ich das so aufschreibe, kann ich es selber nicht so richtig fassen, dass es mir unter solchen Umständen gut gehen kann, aber was soll ich sagen. Ich glaube stattdessen, bietet mir mein Alltag eine Entschleunigung, Menschlichkeit und das Lernen über eine andere Kultur. Auch die herzliche Art der Bewohner, macht das Center zu einem Ort, an dem man sich wohlfühlt. Aber an manchen Tagen, wenn sich die Zeit doch mal zieht, dann freue ich mich auf meine anstehenden Reisen.

Das mit dem Reisen ist aber sone Sache…

Themen wie der Umgang mit meinen Privilegien beschäftigen mich seit Tag 1 und einen richtig guten Umgang habe ich seither noch nicht gefunden. Irgendwie hatte ich schon seit meiner Ankunft ein schlechtes Gewissen wegen meiner Privilegien, doch an einem Tag kurz vor den Sommerferien und meinem Aufbruch in den Norden wurde ich damit nochmal so deutlich wie noch nie konfrontiert: Ein Mädchen, welches über die Ferien nicht wie die meisten, nach Hause gehen kann, sondern im Centre bleibt, erfuhr, dass ich nicht über die Ferien da sein werde. Sie war merkbar enttäuscht, weil sie sich wohl erhofft hatte, dann wenigstens mit mir Zeit verbringen zu können. Sie hat angefangen mich spielerisch zu überreden da zu bleiben: „Wenn du gehst gibt es sonst kein Dosa mehr für dich und kein Chapatti und wenn du da bleibst, darfst du dir jeden Tag dein Lieblingsessen wünschen.“ Sie wusste ihre Aufgaben als Assistentin der Köchin für ihre Zwecke zu nutzen. Was anderes als lachend abzulehnen und „Nein“ zu sagen, konnte ich aber auch nicht. Andere Mädchen begannen Fragen zu stellen: „Warum bekommst du eigentlich manchmal anderes Essen als wir?  Wie viel kostet ein Visa für Deutschland?“ und „Kannst du mich bitte einfach mitnehmen nach Deutschland und auf deine nächste Reise?“ Die Fragen waren lustig gemeint und die Stimmung war heiter. Ich wusste aber, dass die einfache Antwort, dass ich in Deutschland geboren bin, unfassbar ungerecht ist.

Seit meiner Ankunft trage ich eine Angst in mir, dass die Mädchen irgendwann begreifen, dass alle Privilegien, die ich habe: eigenes Zimmer, anderes Essen, längeres Schlafen, kein täglicher Gottesdienst, in Indien reisen und nach Deutschland abreisen, ungerecht und unverdient sind. Ich fürchte, dass sie sich dann von mir abwenden, weshalb ich immer versucht habe diese Privilegien zu verstecken. Vor ein paar Tagen hatte ich den Gedanken, dass ich diese Privilegien gar nicht verstecken kann und vermutlich schon jeder weiß, alleine von meiner Hautfarbe, dass ich andere Privilegien besitze. Dass das aber kein Grund ist, mich weniger zu mögen. Wenn man eine Person gern hat, dann ändert sich das ja auch nicht, wenn einem bewusst ist, dass diese Person viel mehr Möglichkeiten hat, auch wenn diese unverdient sind. Meine Privilegien sind immer mit schlechtem Gewissen und einer Unsicherheit verbunden, was es für mich manchmal ziemlich anstrengend gemacht hat hier zu sein.

Ich wünschte ich hätte noch einen schöneren Abschluss gefunden, aber bis heute weiß ich nicht genau, wie man gut mit diesem schlechten Gewissen umgehen kann. Die nächsten Wochen werden noch weitere Berichte folgen also … stayed continued ;)

Danke fürs Lesen

Eure Merle

info_outline
Besuch bei einer Familie mit meinem Vater und einem Babyküken (Foto: EMS/Plischke)
Besuch bei einer Familie mit meinem Vater und einem Babyküken (Foto: EMS/Plischke)
info_outline
Die Girls und ich im Sari (Foto: EMS/Plischke)
Die Girls und ich im Sari (Foto: EMS/Plischke)

Kommentare

Kommentar schreiben