Liebe Leserinnen und Leser,
wenn Sie die zwei Stichwörter Frauen und Indien hören, was kommt Ihnen da in den Kopf?
Als ich letztes Jahr berichtet habe, dass ich nach Indien gehen werde, war in ganz vielen Fällen die erste Reaktion besorgt, teilweise beängstigt. Warum? Weil die meisten dachten, dass es für mich als Frau in Indien nicht sicher ist. Allgemein assoziiert man mit Indien oft Gewalt gegenüber Frauen, Ungleichheit und Unterdrückung. Deshalb wollte ich euch gerne von meinen Erfahrungen und Erlebnissen erzählen, wie ich die Situation für Frauen hier wahrnehme bzw wahrgenommen habe.
Als das Mädchenheim hier in Kannur schließen musste, wurde es in ein Hostel umgewandelt. So kam auch Jomol ins Bethaniaheim. Sie macht ein Coaching nach ihrem College und wohnt hier, weil ihr eigenes Haus zu weit weg wäre um jeden Tag anzureisen. Wir sind gute Freundinnen geworden und ich habe sie mal gefragt, inwiefern Frauen hier benachteiligt sind oder was Probleme sind, die Frauen hier oft haben. Daraufhin meinte sie, dass die Geschichte eines anderen Mädchens, das für eine kurze Zeit hier gewohnt hat, das beste Beispiel sei. Ich nenne dieses Mädchen/ die Frau jetzt Nadja, das ist aber nicht ihr echter Name. Nadja ist 23 Jahre alt, war früher hier Heimmädchen, hat sich nach der Schule verliebt und sofort geheiratet. Sie hat schnell ein Kind bekommen, doch nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass ihr Mann ein Drogenproblem hat. Er wurde aggressiv, warf Nadja vor, untreu zu sein und begann, sie zu schlagen. Als er sie kurz nach der Geburt ihres Kindes in den Bauch getreten hat, musste sie 3 Monate ins Krankenhaus. Jetzt ist sie getrennt von ihrem Kind, das immer noch beim Vater und seiner Familie im Haus wohnt und muss arbeiten gehen, was mit zwölf-Stunden Schichten, 4 Tagen frei im Monat und ohne Rente auch ganz anders aussieht als in Deutschland. Nadja hat das Glück eine Familie zu haben, die hinter ihr steht und die Möglichkeit für eine kurze Weile kostenlosen Unterschlupf im Heim zu bekommen bevor sie Arbeit gefunden hat und selbstständig Geld verdienen kann.
Dieses Privileg hat aber leider nicht jede Frau, der dies passiert- und Nadja ist leider kein Einzelfall. Das hat mir Jomol erzählt. Ich selber habe unabhängig davon aber auch schon zig Geschichten gehört von Männern, die ihre Frauen schlagen. Vor allem, wenn die Frauen sich in die Abhängigkeit geheiratet haben, ohne Ausbildung, mit armer Familie, hat das schwerwiegende Folgen. Oft realisieren sie erst dann, wie wichtig Bildung ist, erzählt mir Jomol. Es kommt auch vor, dass sich die Frauen gar nicht trauen von dem Missbrauch zu erzählen, weil sie befürchten, verurteilt zu werden und/oder denken, das sei eine Sache zwischen ihr und ihrem Mann. Wenn es eine Liebesehe war, die nicht die Eltern ausgesucht haben, kann es auch sein, dass ihnen gar kein Verständnis entgegen gebracht wird und sie mitverantwortlich für die Situation gemacht werden -sogar von den Eltern. Das ist oft der Grund, warum Frauen Suizid begehen: sie sind gefangen und Bedienstete im eigenen Haus, werden unmenschlich behandelt und sehen keinen anderen Ausweg als den Tod.
Das Bild der Frau als selbstständige Person, die nicht nur für Kochen, Putzen und die Kinder verantwortlich ist, und auch ohne ihren Mann erfolgreich sein kann, ist noch nicht selbstverständlich. Das Narrativ, dass die Bildung der Frauen nicht so wichtig ist wie die der Männer, ist auch noch weit verbreitet und deshalb gibt es viele Frauen, die abhängig von der Ehe beziehungsweise ihrem Ehemann sind. Eine Mitfreiwillige hat mir von einem Mädchen erzählt, dass nach einem guten Schulabschluss studieren gehen wollte, ihre Familie meinte aber, sie solle einen Job finden und schon mal Geld für die Hochzeit verdienen.
Jomol sagt mit der neuen Generation kommt sehr viel Veränderung und es gibt auch einige Gegenbeispiele. Ich habe auch einige selbstständige, arbeitende und reiche Frauen und Mütter kennengelernt. Das beste Beispiel dafür ist meine Superintendent, die 5 Sprachen fließend spricht, studiert und jetzt in ihrer Rente immer noch für das Mädchenheim gearbeitet hat und währenddessen ihre 3 Enkel erzieht (eigentlich sind es die Enkel von zwei Schwestern, aber in den indischen Familien sorgt die ganze Großfamilie füreinander!). Selbstständige, arbeitende Frauen sind in vielen Kreisen normal, wie bei uns auch !
Allgemein muss man sagen, dass auf den Straßen, beziehungsweise draußen unterwegs, überdurchschnittlich mehr Männer als Frauen unterwegs sind. Einmal bin ich zusammen mit einem Mädchen zu einem Laden gelaufen, um etwas zu besorgen. Auf diesem Weg sind wir an einem Stand vorbei gekommen, wo Männer ihren Kaffee und Snacks gegessen haben und sie ist extra ganz schnell mit mir auf der Straßenseite vorbei gehuscht, weil sie Angst hatte. Die Mädchen dürfen nicht alleine raus und der Kontakt zu Jungen ist verboten, selbst Blickkontakt und freundliches Anlächeln wird direkt als Interesse gedeutet. Ich hatte dadurch immer das Gefühl, dass eine normale, freundschaftliche Beziehung zwischen Jungs und Mädchen nicht möglich ist und immer das Geschlecht im Vordergrund steht.
Voreheliche Liebesbeziehungen sind ein absolutes No-Go. Die Beziehungen, die unerlaubterweise dann doch zustande kamen und von denen ich weiß, sind entstanden, weil der Junge sich als erstes „verliebt“ hat (also sie gesehen hat und schön fand) und dem Mädchen dann so lange hinterhergerannt ist, bis es dann auch „Ja“ zu einer Beziehung gesagt hat. Das war die Geschichte eines Mädchen im Heim und so sind die Eltern eines Heimmädchens zusammen gekommen. Auch in Musikvideos und Filmen findet man diese Art von „Liebesgeschichten“. In dem Musikvideo „Kanaa“ aus dem Film „Othaiyadi Pathayila“ ist ein Vers in den englischen Untertitel übersetzt worden: „ I Follow you like a shadow, Look at me just once“. Dabei folgt der verliebte Mann der Frau und läuft nachts auf der Straße vor ihrem Haus. Zwar singt er auch, er sei zu ängstlich einen Move zu machen, aber dennoch würde ich behaupten, das unterscheidet sich grundsätzlich von unserer Vorstellung von Romantik und wie bei uns erwachsene Männer mit einer Frau umgehen würden, in die sie sich verliebt haben.
In meiner Zeit an der Einsatzstelle habe ich mich in Indien kein einziges Mal unsicher gefühlt. Meine Mitfreiwilligen und ich hatten immer das Gefühl, dass wir zwar sehr auffallen und oft auch angestarrt werden, aber dass vor allem von Männern immer viel Abstand eingehalten wurde und alle sehr hilfsbereit waren.
Allerdings hatte vor allem meine Superintendent immer sehr Angst um mich, wenn es darum ging, dass ich alleine raus gehe. Mit der Zeit hat sich das gelegt und ich durfte alleine Besorgungen machen, die Heimmädchen dürfen alleine aber nicht raus und haben teilweise auch mehr Angst davor. Die Gewalt gegenüber Frauen findet nämlich leider nicht nur im Haus statt und ist ein wirklich großes Problem. Ich habe schon schreckliche Geschichten gehört über alles Mögliche: vom Begrabschen am Arbeitsplatz eines ehemaligen Heimmädchens, über Stalking und Vergewaltigung bis hin zum Umbringen von Mädchenbabys durch die eigenen Eltern. Einmal haben wir zusammen fern gesehen und in einem Film ging es um das Kidnappen von zwei kleineren Schulmädchen, die auch vergewaltigt wurden. Die Vergewaltigung wurde zwar nicht gezeigt, aber man hat das kleine Mädchen immer wieder gesehen, wie es Panikattacken bekommen hat und auch einmal, wie es vom Täter gewürgt wurde. Kleine Mädchen mussten heulen und alle fanden es schrecklich, obwohl sie den Film selber sehr gerne geschaut haben. Mal ganz abgesehen davon, dass das in Deutschland wahrscheinlich nicht mittags am Wochenende ausgestrahlt und eine FSK Beschränkung hätte, und es glaube ich keinen Kinderfilm mit diesem Thema gibt, hatte ich auch das Gefühl, dass der Umgang mit diesem Verbrechen ganz anders war. Als ob sich die Kinder sehr bewusst waren, dass es etwas sehr Trauriges und Schlimmes ist, das ihnen aber in der Realität auch passieren kann, wenn sie nicht aufpassen. Und ich denke (und hoffe), Kinder bei uns in Deutschland haben sich in dem Alter noch nicht so konfrontiert mit dem Thema gefühlt, dass sie ernsthaft darüber nachdenken, es sich überhaupt vorstellen können oder denken sie müssen aktiv aufpassen, dass sie nicht in gefährliche Situationen kommen, wenn sie rausgehen.
Ich glaube, diese Idee der Selbstverantwortung und der Mitschuld des Opfers bei solchen Verbrechen, wird stark durch die strengen Kleidungsregeln beeinflusst. Jomol hat mir auch erzählt, offenere Kleidung wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert und im Gegensatz zu vielen anderen Themen, sieht sie in naher Zukunft da auch keine Veränderung.
Diese Einstellung ist mir in einer bestimmten Situation sehr deutlich geworden. Über Neujahr war ich im Urlaub mit den anderen Freiwilligen in Goa, dem Bundesstaat Indiens, der für seine Partyszene bekannt ist. Wir sind davon ausgegangen, dass wir dort viele weitere Mitfreiwillige treffen werden und aufgrund der lockereren Gesellschaft und Gesetze ein bisschen „normaler“ Silvester feiern können. Wir sind allerdings in das falsche Viertel geraten, wo hauptsächlich indische Männer das einzige Mal im Jahr ohne große Vorschriften und mit Alkohol und Drogen feiern konnten. Da haben wir uns nicht sehr wohl gefühlt und wurden auch öfter mal dumm angemacht. Als ich davon anschließend meiner Warden erzählt habe, war das erste, was sie mich gefragt hat, was ich anhatte. Auch hier in der neuen Einsatzstelle hat die Warden von einer Frau verlangt, dass sie ihre kürzere, lockere Hose, in der man ihre Knie sehen konnte, nicht mehr außerhalb ihres Zimmers trägt, denn es könnte immer sein, dass ein Mann sie sieht.
Leider wird also klar, dass Vorurteile oft nicht von irgendwo her kommen und viele Strukturen, Faktoren sowie Glaubenssätze der Gesellschaft zusammenkommen und so die Gleichberechtigung für alle Frauen und deren Anerkennung über die Rolle ihres Geschlechts hinaus verhindert. Das alles ist ein sehr komplexes, vielschichtiges Problem, ohne einfache Lösung oder Durchblick.
Zum Schluss möchte ich also nochmal betonen, dass alles, was ich hier geschrieben habe, nur meine eigene Perspektive auf die Dinge ist und das kein allumfassendes Bild auf die Situation von Frauen in Indien geben kann. Ich kann nicht garantieren, dass ich durch die Sprachbarriere Dinge falsch aufgenommen habe. Durch meinen Kontakt mit den Mädchen aus dem Heim, die hauptsächlich aus ärmeren Verhältnissen kommen, habe ich alles aus einem bestimmten Blickwinkel mitbekommen. Ich habe immer das Gefühl, dass vielen Menschen in Deutschland nur diese extremen Geschichten im Kopf bleiben und nicht bewusst ist, dass es sehr wohl auch emanzipierte, selbstständige und arbeitende Frauen und Mütter gibt, die in gleichberechtigten Ehen auf Augenhöhe leben. Jomol beispielsweise hat mir gesagt, sie hat im Heim das erste Mal von einem Fall mit häuslicher Gewalt gehört und bei sich zuhause immer Gleichberechtigung erlebt. In Kreisen, in denen Geld kein großes Problem darstellt, ist die Situationen für Frauen also ziemlich ähnlich wie bei uns!
Ich hoffe, ich konnte euch meinen kleinen Einblick zu diesem riesigen Thema geben.
Bis zu meinem nächsten Blogeintrag!
Liebe Grüße,
Luisa
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