Weltweit erlebt
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14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Von h. L. nach v. R.: Sophie, Alisha, Jonas, Marvin, Hannah, Carolin und Anton vor dem Mausoleum Kwame Nkrumahs (Foto: EMS/Kadelbach)
Von h. L. nach v. R.: Sophie, Alisha, Jonas, Marvin, Hannah, Carolin und Anton vor dem Mausoleum Kwame Nkrumahs
25. Oktober 2019

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Anton

Anton

Ghana
leistet seinen Freiwilligendienst in einer Berufsschule
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"Hey, schau mal!" Carolin, die andere Freiwillige, deutet aus dem kleinen beschlagenen Fenster des Flugzeuges. Verschlafen blicke ich auf die Landschaft unter uns. Wir haben die Pyrenäen hinter uns gelassen und schweben auf eine glitzernde Küste zu: Marokko. Endlich fliegen wir in den Luftraum Afrikas. Ich atme tief ein. Trotzdem riecht die Luft um uns weiterhin nach Tiefkühlgemüse und Mikrowellenhühnchen, aber so langsam macht sich doch der Duft des Abenteuers in unseren Köpfen breit. Wie werden wir das Jahr wohl verbringen? Welchen Leuten werden wir begegnen? Und werden wir uns oft sehen können? Immerhin liegen achtzig Kilometer zwischen dem Computerraum im Ausbildungszentrum, in dem ich arbeiten werde, und der Station im Krankenhaus, auf der Carolin Kinder betreut. Es wird also in keinem Fall eine kurze Fahrt, denn zur Strecke kommt noch das Verkehrschaos einer Millionenstadt. Ganz zu schweigen von den afrikanischen Landstraßen, die ich mir ähnlich holperig ausmale wie die glitzernde Dünenlandschaft tausende Meter unter uns.

Die malerische Szenerie der Sahara, die unaufhaltsam unter uns vorbeizieht, kann mich kaum von meiner überwältigenden Müdigkeit ablenken. Getreu dem Motto "schlafen kannst du, wenn du dort bist" habe ich die ganze Nacht lang in letzter Sekunde noch Dinge in meinen Koffer und meine Rucksäcke gestopft. Die vorherigen Tage war ich in ähnlicher Manier durch die Läden, Buchhandlungen und Kaufhäuser meiner Heimatstadt gehetzt und hatte mir Dinge zugelegt, die ich wahrscheinlich in Afrika brauchen würde. Zuerst ein paar Gastgeschenke! Filzstifte, Spielkarten und vielleicht ein günstiges Maßband für meinen kleinen Gastbruder, sein Vater ist schließlich Rektor einer handwerklichen Berufsschule. Genau! Für die Gasteltern noch Souvenirs meiner Heimatstadt, so dass sie einen kleinen Eindruck bekommen können, wo ich her komme. Dazu wären sicher auch ein paar Bilder meiner Familie geschickt. Auf denen kann ich meiner ghanaischen Gastfamilie meine deutsche Familie zeigen. Es ist schon seltsam, dass ich sie zehn Monate lang nicht sehen werde. Stimmt, ich sollte auch für mich ein paar Bilder ausdrucken, falls ich Heimweh bekomme und vielleicht nehme ich auch besser ein paar deutsche Süßigkeiten mit. Schokolade wohl eher nicht, also lieber hier noch ein letztes Mal essen. Aber Gummibärchen und Brause kommen in den Koffer. Gut, dann wäre für die Zeiten gesorgt, in denen ich ein Stückchen Heimat brauche. Aber eigentlich will ich mich doch vor Ort in Kumasi einleben. Also ganz wichtig: noch ein Paar Flipflops und zwei lange gemusterte Stoffhosen. Ich will ja nicht touristisch wirken!

Gedankenverloren greife ich in meinen Rucksack. Da ist ein Loch im Gewirr der eng gepackten Sachen: Meine Zahnpasta ist nicht durch die Kontrollen gekommen. Die Marketinggenies haben die Packung zu Werbezwecken größer gemacht: "25ml Gratis!" - In meinem Fall also 125 ml umsonst... Hoffentlich reicht mein restliches Zahnputzzeug aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich irgendwo dort Zahnseide herbekommen kann... Wenigstens hat der Kontrolleur mir noch mein deutsches Brot gelassen. Schön langsam kauen. Das ist das letzte Vollkornbrot für eine sehr, sehr lange Zeit.

"Please remain seated and keep your seatbelts fastened. We will land shortly at Accra Airport." Der Landeanflug. Gebannt schauen wir zwei auf die Hauptstadt, die uns entgegenkommt um uns abzuholen. Palmen zwischen den Gebäuden, die mich mit ihren flachen Giebeldächern an Italien denken lassen. Darum herum schlängelt sich der Verkehr auf großen mehrspurigen Straßen, teilweise mit baulich getrennten Fahrspuren. Moment mal? Wo sind die ganzen Motorräder, wie ich sie schon von meiner Schwester kenne? Bei ihrem Freiwilligendienst hatte ich sie zwei Wochen lang in Benin besucht. In dem Land zwei Länder östlich von Ghana hatte es auf den Straßen nur so von Motorrädern gewimmelt! Hier in der Hauptstadt Accra sehe ich hingegen hauptsächlich Autos unter uns vorbeiziehen. Allmählich kommen wir dem Stadtkern näher. Das bunte Licht der belebten Straßen spiegelt sich in den hoch aufragenden Glasfronten der Bankgebäude. Würde ich jetzt vor solch einer Bankzentrale stehen, könnte ich in der Scheibe sicher einen dumm aus der Wäsche schauenden mitteleuropäischen Freiwilligen sehen. Denn mit so vielen mehrstöckigen Hochhäusern hatte ich nicht gerechnet. So überwältigend waren die Berichte gewesen über Orte wie die größte Elektroschrott-Müllhalde der Welt, die ich in meiner Vorbereitung gelesen hatte, dass mich der Anblick der Stadt fast umhaut. Zum Glück habe ich meinen Sicherheitsgurt bereits angelegt. Kurz bevor wir auf der Landebahn aufsetzen, klappe ich meinen Mund wieder zu. Der ghanaische Pastor Ashittey scheint mir den überraschten Gesichtsausdruck immer noch ansehen zu können, als er uns eine Weile später vor dem Flughafen abholen kommt. Nachdem er uns dem EMS Verantwortlichen Rafael Dreyer vorgestellt hat, versichert er uns, wir würden gleich morgen früh unsere Speere erhalten, falls die wilden Tiere angreifen. Mein Eindruck des Landes ist zwar immer noch äußerst lückenhaft, aber auch ich muss darüber lachen.

Wir beschließen noch etwas essen zu gehen und holpern in seinem geräumigen Auto Richtung Innenstadt. Doch nicht mal in der Hinsicht war meine Einschätzung des Landes richtig gewesen. Das Geruckel kommt nur gelegentlich mal von einem Schlagloch, hauptsächlich aber von Bodenschwellen, die den Verkehr auf die vorgeschriebene Geschwindigkeit bremsen lassen. Nachdem wir angekommen sind, sitze ich dem grinsenden Gilbert gegenüber. Wir haben uns zuletzt in Stuttgart bei dem EMS-Jugend-Netzwerk Treffen gesehenen, am Ende seines Freiwilligendienstes, den er in einem Kindergarten in Deutschland geleistet hat. Da es schon spät ist, sitzen wir in einer der Filialen einer großen amerikanischen Fastfood-Kette, was mich wieder ins Grübeln kommen lässt. Wenigstes ist das Hühnchen scharf, auf dem ich gedankenverloren herumkaue, sonst wäre ich wahrscheinlich nicht sicher, ob ich tatsächlich im richtigen Land gelandet bin.

Am zweiten Morgen in Ghana hat Carolin direkt den Hauptgewinn gezogen. Allerdings unangenehmer Weise beim Ungeziefer-Lotto. Acht Kakerlaken liegen in ihrem Zimmer auf dem Rücken und strampeln mit den Beinen. Da wir weder Speere noch irgendeine Idee haben, was man da jetzt am Besten macht, nimmt uns Rafael Dreyer unser EMS Verantwortlicher mit in die Oxfordsteet-Mall. Staunend laufen wir aus der Tiefgarage des Kaufhauses vorbei an Markenfachgeschäften und anderen Kunden Richtung Supermarkt. "2.99 für ein Kilo Bananen" grüßt mich ein Schild am Eingang. Nicht schlecht. Ähnliche Preise wie in einem Deutschen Einkaufszentrum, denke ich. Bis mir einfällt, dass die Preise in der Lokalwährung Cedi angegeben sind... also 50 Cent für ein Kilo Bananen! Krass! Doch da hören die Überraschungen nicht auf. Als wir mit einer großen Flasche Insektenspray im Korb noch ein wenig durch den Supermarkt schlendern, komme ich nach und nach an vielen Produkten vorbei, die ich panisch noch in Deutschland gekauft habe, weil ich dachte ich könnte sie hier nicht bekommen: Zahnseide, Marken-Batterien und, ich kann es gar nicht glauben: Vollkornbrot! Je länger wir durch den Laden gehen, desto mehr komme ich über mein Bild Ghanas ins Grübeln. Bis ich plötzlich wie angewurzelt vor einem Regal stehen bleibe. Ich blinzele. Ich schaue nochmal richtig hin. Ich kneife mich. Doch anscheinend bin ich schon hell wach. Ich stehe vor einem Regal mit Ferrero, Lindt und Rittersportschokolade. Aber... Äh... Aber... Ja gut, hier gibt es von Rittersport immerhin keine... äh... "Knusperkeks"-Schokolade, sondern nur "Knusperflakes". Mein Bild von Ghana war doch gar nicht sooo falsch... Kein "Knusperkeks"! Ist halt doch ein zurückgebliebenes Entwicklungsland... Kein "Knusperkeks" das sind ja Zustände! ... Zustände! ... Das ist ja genau - genau wie in den USA... Hmm... Oh man... 'Blöder Gedanke!', denke ich und werde langsam kleinlaut.

So wie es aussieht, habe ich noch viel zu lernen. Aber zum Lernen sind wir schließlich nach Accra gekommen. Mit fünf anderen Freiwilligen sitzen wir beim Sprachkurs in einem Klassenzimmer und werden von unserer Lehrerin ausgelacht. Aber nur, weil wir alle selbst bereits über unsere verzweifelten Versuche lustig machen, die phonetischen Grundlagen der Sprache zu lernen, die von der größten ethnischen Gruppe Ghanas gesprochen wird. Mit einem "Tsch"-Laut, den sie mit einem Pfeifen kombiniert, versucht Judith unsere Lehrerin uns erneut den Laut beizubringen, der auch im Name der Sprache vorkommt: Twi. Kurz unterdrücken wir wieder unser Gelächter und versuchen uns an richtigen Aussprache. Bei anderen Worten hatte Judith stets Beispiele aus dem Englischen herangezogen und auch gefragt, ob jemand von uns Russisch spreche, in der Hoffnung es uns damit einfacher machen zu könnten. Doch zum "tw" gibt es keine entsprechende Laute in irgendeiner Sprache, die wir sieben in der Schule gelernt haben. Auch Erich, der extra für den Twi-Kurs nach einigen Jahren wieder zur Schulbank zurückgekehrt ist, hat nicht mehr Erfolg als der Rest von uns. Nach langem probieren ist Marvin der Erste, der das Wort richtig ausspricht. "Twi", sagt er genau auf die Weise, wie Judith es vorgemacht hat. Sein Kollege Jonas schüttelt leicht frustriert seine langen Locken, bevor er sich wieder an der Aussprache versucht. "Tschui, tschui.", versucht er es Marvin gleich zu tun. Sophie ist fleißig bei der Arbeit, während Hannah sich die Brille zurecht rückt und sich lachend eine kurze Pause genehmigt, bevor sie es mit einem ambitionierten "Tschwi, Tschwi, Tschwi" auch wieder probiert. Alisha spielt abwesend mit ihren geflochtenen Haaren während sie, Carolin und ich nach und nach von Judith auf den richtigen Weg geführt werden. "Ihr müsst versuchen 'T' und 'W' gleichzeitig auszusprechen!", sagt sie, während ich denke, dass sich solch eine Aufgabenstellung eigentlich für mich eher nach Gruppenarbeit anhört, zumal wir es jeder alleine offensichtlich nicht ganz so einfach hinbekommen.

Außerhalb des Unterrichts folgen dann abwechselnd verschiedene kulturelle Unternehmungen und die Teilnahme an einer nervenaufreibenden Schnitzeljagd, die Rafael für uns vorbereitet hat, bei der wir zwei deutsche Schnitzel unseren ghanaischen Aufenthaltsgenehmigungen hinterherjagen. Am Ende der zwei Wochen sind wir erschöpft von den vielen gemeinsamen Erlebnissen und all den Dingen, die wir in so kurzer Zeit gelernt haben: von der neuen Sprache Twi, über uns noch sehr fremde Lokalgerichte, bis hin zur korrekten Art sich zu begrüßen. Aber jetzt heißt es auf Wiedersehen, weg von den vielen Deutschen, die wir in der Hauptstadt kennengelernt haben, beim Konzert des Staatsorchesters, beim abendlichen Fußballspielen oder beim Hauskonzert der CVJM-Verantwortlichen Sarah und Bernd. Auf geht's in die verschiedenen Einsatzstellen.

Ich komme voll beladen bis zu den Hosentaschen meiner gemusterten Stoffhose, die ich extra für Ghana gekauft habe, aus der Unterkunft geschlappt. Hinter mir zuckelt meinen großer Rollkoffer aus der Tür und meine Schultern stöhnen unter dem Gewicht meiner beiden Rucksäcke. Vor mir steht mein Gastvater, um mich abzuholen. Rev. Hanson, ein hochgewachsener Mann, begrüßt mich höflich in einem schicken Hemd, einer schwarzen Anzugshose und glänzenden Lackschuhen. Sorgfältig polierte Lackschuhe! Gedanklich schiebe ich hastig meine Flipflops noch tiefer in meinen Rucksack. "Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft und Grüße aus Deutschland.", stammele ich als Antwort auf seine Begrüßung. Ich komme mir unglaublich touristisch vor.

Meine Absicht mit diesem Text ist es, auf möglichst ansprechende Weise meine Eindrücke und Erlebnissen mitzuteilen. Natürlich hat sich bei diesem Schreibstil der fiktiven Nacherzählung meiner Erfahrungen hier und da ein wenig künstlerische Freiheit eingeschlichen. Selbstverständlich erinnere ich mich nicht an den genauen Wortlaut jeder Konversation oder an andere Details der gleichen Art. In diesem Blogeintrag ging es mir hauptsächlich darum, die Wandlung in meinem Blick auf Ghana nachzuvollziehen. Ganz der Mitteleuropäer hatte ich mit einem vor sich hin dümpelnden Entwicklungsland gerechnet, in dem die Verhältnisse in jeglicher Hinsicht schlechter sind als in Deutschland. Deswegen war ich - auch wenn mir das rückblickend durchaus peinlich ist - überrascht ein komplexes und von interessanten Gegensätzlichkeiten geprägtes Land vorzufinden. Genau wie wir Deutschen uns vielleicht bemühen aus Gründen des Umweltschutzes unseren Müll zu trennen, während wir zur Stromgewinnung horrende Mengen an Kohle verbrennen, herrscht auch hier in Ghana dieser Zwiespalt des Alltags in vielen Hinsichten. Erst als ich hier mit ähnlichen Widersprüchen konfrontiert wurde, ist aus der vagen Vorstellung eines simpleren Ortes das verschwommene Bild eines realen Landes entstanden und der Wunsch, es näher kennen zu lernen. Denn momentan besteht mein Bild aus wenigen, sehr beschränkten, einzelnen Eindrücken von denen ich Euch in diesem Blog ein kleines Gäbelchen von abgeben kann. Gerade deswegen ist es immer wichtig im Hinterkopf zu behalten, dass auch ich dem Land, über das ich schreibe, sehr fremd bin. Denn auch die Redewendung mit dem zinkenbesetzten Zuckerkuchen Zerteiler (ca. zwei Zeilen zuvor) zeigt, dass ich eindeutig nur ein Fremder in Ghana sein kann, denn hier wird nicht mit Gabeln, sondern eigentlich mit der rechten Hand gegessen. Essen - auch ein sehr spannendes Thema, über das es viele interessante Geschichten zu erzählen gibt. Doch über die verschiedenen Gerichte, die ich hier probiert habe, berichte ich dann im meinem nächsten Blogeintrag.

In diesem Sinne: Viele Grüße ins Land wo Käs und Spätzle fließen!

Euer Anton

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Zwei der Lehrmeister meiner ersten Wochen. Judith und das Schokoladenregal. (Foto: EMS/Kadelbach)
Zwei der Lehrmeister meiner ersten Wochen. Judith und das Schokoladenregal.
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Aufbruch über eine Landstraße nach Kumasi – mein neues Zuhause. (Foto: EMS/Kadelbach)
Aufbruch über eine Landstraße nach Kumasi – mein neues Zuhause.