Weltweit erlebt
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10 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Zusammensein - wichtiger als alles andere! (Foto: EMS/Hildenbrandt)
Zusammensein - wichtiger als alles andere! (Foto: EMS/Hildenbrandt)
24. März 2019

Die Zeit rennt...

Sophia

Sophia

Indien
arbeitet in einem Heim für Kinder mit geistiger Behinderung mit
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...und ich finde keinen Pausenknopf

Vor wenigen Tagen saß ich über meinem Notizbuch und fing an, alle Ideen, die ich für die vor mir liegende Zeit habe, alle Projekte, die ich mit den Kindern durchführen möchte, und den Stundenplan, den ich für meine Klasse abwechslungsreich gestalten wollte, auf Papier zu bringen. Anschließend versuchte ich, ein wenig Ordnung in mein Chaos aus niedergeschriebenen Gedanken zu bringen und alles realistisch umsetzbar auf die kommenden Wochen zu verteilen. Als ich meinen Kalender ein weiteres Mal umblätterte, stand dort ein Wort geschrieben, welches meinen Herzschlag für kurze Zeit aussetzen ließ: „Heimkehr“.
Heimkehr, ein Wort, welches in mir so viele verschiedene Gefühle auslöst, dass ich wirklich nicht sagen kann, welches überwiegt. Soll ich mich freuen, oder traurig sein? Soll ich lachen, oder weinen? Will ich die Zeit anhalten, oder beschleunigen? Haben sich meine Erwartungen an meine Zeit in Indien erfüllt, oder kam alles ganz anders? Wer war ich letzten September noch in Deutschland und wer bin ich jetzt nach circa 7 Monaten weit weg von zuhause? Oder bin ich gar nicht so weit weg von zuhause? Habe ich hier ein zweites neues Zuhause gefunden? Was lasse ich hier in Indien hinter mir und was erwartet mich in Deutschland? Bin ich überhaupt bereit, in mein altes Leben zurückzukehren, oder wird mein Leben vielleicht nie wieder wie vorher sein? - Fragen über Fragen, und auf die meisten davon habe ich irgendwie keine richtige Antwort. Nur einer Sache bin ich mir ganz sicher: Die Zeit rennt gerade. So schnell, dass es mir ein wenig Angst macht. So schnell, dass ich nicht weiß, wie alle meine Pläne noch Wirklichkeit werden können. So schnell, dass ich am liebsten auf Pause drücken würde, aber ich finde einfach keinen Pausenknopf.
Diese Erkenntnis hat mich zum Nachdenken angeregt, wie ich meine verbleibende Zeit am besten sinnvoll nutzen könnte, aber auch, was mir die bereits vergangene Zeit bereits gegeben hat und ich musste feststellen, dass diese Liste unendlich lang und kaum in Worte zu fassen ist. Trotzdem möchte ich das an dieser Stelle einmal versuchen und Euch an diesen besonderen Erlebnissen teilhaben lassen:

Ich muss zugeben, als ich mich am zweiten September letzten Jahres in Deutschland auf den Weg nach Indien gemacht habe, dachte ich, ich wäre auf alles vorbereitet. Auf so etwas wie Heimweh habe ich keinen einzigen Gedanken verschwendet, da ich dieses Gefühl vorher noch nie wirklich verspürt habe und davon ausging, dass sich das während meines Freiwilligendienstes auch nicht ändern wird. Ich war einfach nur froh, endlich für längere Zeit mein Herkunftsland verlassen zu können, da ich dringend eine Pause von diesem Land, an welchem mich so viel störte und nach wie vor stört, brauchte. Ich dachte, ich sei irgendwie wie gemacht für dieses Programm, hatte so viel geplant, hatte Vorstellungen, wie ich den Kindern hier „helfen“, etwas bewegen würde und wie perfekt alles sein würde. Ein Bild, was auch in Deutschland von vielen Menschen mit einem sogenannten „Freiwilligendienst“ in Verbindung gebracht wird. (Die Vorbereitungsseminare haben mir dieses Denken, Gott sei Dank, schon ein wenig genommen, – Vorbereitung ist so unglaublich wichtig!! - allerdings hatte ich es trotzdem immer noch im Hinterkopf.). Und dann kam ich hier an und wurde erst einmal eines Besseren belehrt, auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Natürlich ist aller Anfang schwer, das Eingewöhnen in eine neue Kultur mit neuen Angewohnheiten und Lebensweisen erfordert viel Zeit und Geduld und die Sprachbarriere ist keineswegs zu vernachlässigen. Und die ersten drei/vier Monate schob ich all meine Probleme auf die Eingewöhnungsphase. Ich will damit keinesfalls sagen, dass diese Zeit nicht schön für mich war. Auch in dieser Zeit erlebte ich viel Spannendes, machte neue Entdeckungen, wurde vertrauter mit der Kultur, verbrachte tolle Momente mit den Kindern und hatte ein paar der sogenannten Erfolgserlebnisse. Doch irgendwie schienen mir diese Momente des Glücks schwach gegenüber negativen Erfahrungen und Momenten der Verzweiflung und Hilfslosigkeit zu sein. Und ich war tatsächlich manchmal am Verzweifeln, konnte mit bestimmten Situationen nicht umgehen, wie ich es mir gewünscht habe und wollte mich einfach vor dem Rest der Welt verstecken.
Nach dem Neujahresurlaub mit den anderen Freiwilligen nahm ich mir für das kommende Jahr viele Dinge vor, sagte mir, dass ich in den nächsten 6 Monaten irgendwie alles anders machen wolle, endlich etwas schaffen wolle. Ich war voller Tatendrang und kam übermotiviert zu meiner Einsatzstelle zurück.

Ich versuchte, neue Ideen umzusetzen, endlich nicht nur darüber nachzudenken, sondern es auch wirklich zu machen. Als dann aber nichts so richtig funktionieren wollte, wie ich es mir ausgemalt hatte und meine Pläne ständig durchkreuzt wurden, wurde mir ein heftiger Schlag versetzt. Meine Übermotivation war genau das, was nun das Gegenteil bewirkte, als ich dachte und ich fiel in eine Art Loch, aus dem ich wochenlang nicht herauskam. Die Projekte, die ich geplant hatte, fing ich gar nicht erst an, da ich mir dachte, dass es sowieso nicht funktionieren wird. Ich dachte nur noch an den nächsten Ausflug mit Mitfreiwilligen, an das Zwischenseminar und an die Zeit, in der ich nicht in meiner Einsatzstelle war. Oft versteckte ich mich in meinem Zimmer und musste mich selber schon zwingen, in die Schule oder zum Hostel zu gehen. Der Yoga-Unterricht, den ich angefangen hatte, zu besuchen, wurde zu einer Art Ausrede, um nicht bei den Kindern zu sein, weil ich mich dort nur noch scheitern sah. Ich malte mir aus, wie die Angestellten über mich dachten, wie sie mich mit anderen Vorfreiwilligen verglichen und unzufrieden mit mir waren. Heimweh wurde für mich nun doch zur Realität und Sehnsucht nach der Heimat zum dominierenden Gefühl. Ich versuchte, irgendwie herauszufinden, wie ich die restlichen Monate noch überstehen könnte.
Dann kam das Zwischenseminar in Hyderabad, bei dem ich alle Freiwilligen und auch Kathrin von der EMS aus Deutschland, die das Seminar geleitet hatte, wiedersah. Es hätte für dieses Zusammentreffen für mich wirklich keinen besseren Zeitpunkt geben können. Der wichtigste Inhalt des Seminars war der Austausch von unseren bisherigen Erfahrungen, das Diskutieren von Problemen und unseren Gedanken. Ich merkte (was ich vorher tatsächlich nicht gedacht hatte), dass auch bei den Anderen ähnliche Probleme auftraten. Ich fühlte mich bestärkt und nicht mehr so alleine, da mir gesagte wurde, es sei völlig okay, sich die persönliche Zeit zu nehmen, die man braucht, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil man nicht bei den Kindern ist (welches ich sehr oft hatte, was meine Situation nicht besser werden ließ). Außerdem hatten wir die Gelegenheit, unsere Ideen auszutauschen und bekamen so neue Anreize für die zweite Halbzeit. Kathrin gab uns die Aufgabe, uns ein Projekt zu überlegen und zu planen, was wir dann nach dem Seminar umsetzen wollten. Ich überlegte mir, mit den Kindern gemeinsam Kuchen zu backen und dann zu essen. Jede Woche eine andere Klasse. Mit diesem Ziel startete ich in die zweite Hälfte des Einsatzes in Indien, immer noch etwas unsicher, aber mit dem Gedanken, dass ich von meinem Auslandsaufenthalt unter keinen Umständen mit den Gefühlen des letzten Monats zurückkehren wollte.

In der darauffolgenden Woche hatte ich Besuch von einer Freundin, die Lehrerin für mehrfach behinderte Kinder in Deutschland ist und von der ich mir dadurch auch einiges abschauen konnte. Gemeinsam mit ihr raffte ich mich auf und startete den ersten Versuch, mit einer Klasse einen Kuchen zu backen. Und es war ein großer Erfolg! Die Kinder waren voller Tatendrang dabei und fanden es einfach nur toll, etwas selber herstellen zu können, was sie danach auch noch essen durften. Auch andere Lehrer wurden darauf aufmerksam, zeigten mir, dass sie von der Idee begeistert waren und fragten, wann ich das mit ihrer Klasse machen würde. Die Aktion war also nicht nur ein Erfolgserlebnis für die Kinder, sondern auch genau das, was ich gebraucht hatte, um wieder neuen Mut zu fassen. Von da an ging es für mich nur noch steil bergauf. Jede Woche wurde ein neuer Kuchen mit einer neuen Klasse gebacken, aber ich fing auch an, weitere neue Projekte vor allem mit der Klasse des Schulleiters Joseph zu starten, der aufgrund seiner Position oft andere Dinge erledigen muss und somit leider keine Zeit für die Kinder findet. Die Kinder begrüßen mich jeden Morgen mit voller Freude, sind glücklich darüber, dass ihnen jemand seine Zeit schenkt und sie etwas Neues machen konnten. Wenn ich den Klassenraum betrete, sitzen sie auf einmal ganz aufrecht da, gespannt darauf, was wir wohl an diesem Tag machen. Egal ob kleinere oder größere Tätigkeiten, ganz simple oder auch etwas kompliziertere: Die Kinder sind immer mit voller Konzentration dabei und geben ihr Bestes. Sie haben keine großen Erwartungen an mich, sondern wollen einfach nur nicht den ganzen Tag herum sitzen und nichts tun. Und deshalb ist es auch gar nicht schlimm, wenn ein Projekt mal nicht so funktioniert, wie geplant, ich aufgrund der Sprache Probleme habe, etwas zu erklären oder ich aus dem selben Grund gar nicht wirklich in der Lage dazu bin, ihnen etwas beizubringen und sie richtig zu unterrichten. Fast täglich kommen andere Lehrer in unsere Klasse und schauen, was ich mit den Kindern mache und sagen mir dann, dass sie es super finden. Diese Anerkennung tut manchmal wirklich gut. Doch die wichtigste Anerkennung für mich ist das Lachen und die Freude der Kinder. Da ist es plötzlich gar nicht mehr so schlimm, wenn meine Pläne erneut wegen irgendetwas durchkreuzt werden, wie es ziemlich oft der Fall ist und der Tag ist wieder schön.

Im Hostel ist es das Gleiche. Es ist gar nicht so schlimm, wie ich zu Beginn meines Einsatzes dachte, wenn ich nicht irgendetwas ganz besonderes mit den Kindern mache und ihnen kein neues Spiel beibringe. Meistens reicht es einfach, für sie da zu sein, mit ihnen irgendwo zu sitzen und Zeit mit ihnen zu verbringen, auch wenn diese nicht produktiv ist. Die Kinder haben keine Erwartungen an mich, sie wollen niemanden, der ihr Leben verändert oder etwas bewegt. Sie wollen auch niemanden, der ihnen total viel beibringt. Sie wollen einfach nur jemanden, der ihnen ein bisschen Aufmerksamkeit schenkt, ihnen zeigt, dass sie etwas Besonderes sind. Und es ist gar nicht so schwierig, dieser jemand zu sein. Diese Erkenntnis, dass die kleinen unscheinbaren Dinge so viel wertvoller sein können, als die großen offensichtlichen, hat mich schon wieder ein ganzes Stück wachsen lassen und mir geholfen, aus meinem Loch herauszukommen. Diese Erkenntnis ist der Grund, dass ich im Moment ständig mit einem Lächeln auf den Lippen durch die Welt laufe und es sehr schwierig ist, mir den Tag zu vermiesen. (Der negativste Moment ist wohl gerade, wenn ich nachts innerhalb meines Moskitonetzes eine Mücke habe, die mich zersticht und die ich einfach nicht finden kann.) Und alleine diese Erkenntnis war es wert, diese lange Reise auf mich zu nehmen, Heimweh zu erleben, Tränen zu vergießen und an eigene Grenzen zu stoßen. Manchmal muss nämlich erst genau das passieren, bevor man seinen eigenen richtigen Weg findet.

 

Des Weiteren wurde mir klar, dass ich irgendwie nur eine von vielen Freiwilligen bin, dass nach mir einfach eine andere Person kommen würde und dass Freiwillige vor mir schon so viel gemacht haben, dass ich gar nicht wusste, wie ich ihnen irgendwie das Wasser reichen solle. Mir wurde im Laufe der Zeit bewusst, dass ich alles andere war, als eine Person, die wirklich etwas bewegen konnte, die wirklich helfen konnte, aber das erwartet hier zum Glück auch niemand von mir.
Mittlerweile fasse ich mir schon selber an den Kopf, wenn ich über dieses Ziel von mir nachdenke, und frage mich, wie ich nur so naiv sein konnte, das zu denken. Es gibt natürlich einiges hier, was aus meiner deutschen Sicht nicht in Ordnung ist, Dinge die ich gerne ändern würde. Doch ich durfte auch lernen, dass das, was in Deutschland praktiziert wird, nicht einfach so in einem anderen Land angewendet werden kann und vor allem nicht einfach so mit einer völlig anderen Kultur vereinbar ist.

Die Hintergründe der Menschen hier sind komplett andere, als unsere, die Möglichkeiten begrenzter. Wenn in Deutschland irgendein 19jähriges Mädchen vom anderen Ende der Welt kommen würde, ohne jegliche Ausbildung, und uns erzählen wollte, was bei uns alles „falsch“ liefe, wobei man sich auch noch fragen muss, was richtig und was falsch ist und ob es überhaupt ein richtig und falsch gibt, was würden wir dann wohl denken? Würden wir ihre Kritik mit offenen Armen willkommen heißen? Wohl eher nicht. So müssen sich auch die Leute hier fühlen, wenn ich ihnen irgendwie versuche klarzumachen, dass mir etwas nicht gefällt, so wie es gehandhabt wird.
Hinzu kommt, dass ich selber oft nicht weiß, wie man es anders machen könnte, da ich nur mein Abitur habe und keinerlei Qualifikationen für die Arbeit hier. Und das ist etwas, was mir auch erst hier bewusst wurde: Wie wichtig eine Ausbildung eigentlich ist und dass es naiv war, einfach hierher zu kommen und die Menschen, die schon jahrelang hier arbeiten, belehren zu wollen. Diese Erkenntnisse, lernen, mit diesen Dingen umzugehen und lernen, sie zu tolerieren, was nicht heißt, dass ich sie auch akzeptieren muss, alleine das ist etwas, was mich selber ein ganzes Stück wachsen ließ und ein wichtiger Gewinn meiner Zeit hier. Außerdem haben mir die Dinge, die mir Probleme bereiten, auch auf ihre Weise die Augen geöffnet, dass das, was ich kannte und was für mich selbstverständlich war, alles andere als selbstverständlich ist. Dadurch entwickelte sich für mich ein ganz neuer Respekt, eine ganz neue und viel stärkere Wertschätzung dieser Dinge.

Und hier noch ein kleiner Tipp an alle Nachfreiwilligen und an alle, die so etwas in ihrer Zukunft auch einmal machen wollen: Niemand hier in den Einsatzstellen erwartet von euch, eure Vorgänger irgendwie zu übertrumpfen, „mehr“ zu schaffen als sie. Bleibt euch selber treu, denn nur so werdet ihr eine glückliche Zeit erleben. Jeder Mensch hat seine ganz eigenen Qualitäten und kann sich durch diese unterschiedlich einbringen. Auch bei mir hat es etwas gedauert, bis ich das erkannt habe und diese Qualitäten entdeckt habe, aber jeder von uns hat sie. Und bei mir kamen sie zum Vorschein, als ich anfing, einfach ich selbst zu sein.

 

(Besonders beim folgenden Abschnitt möchte ich betonen, dass das nur meine persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen sind!)

Eine weitere Sache, die ich hier auf eine ganz neue Art und Weise erleben durfte, ist die Religion. Natürlich zählen dazu auch die neuen Religionen, wie der Hinduismus, mit denen ich vorher noch nie wirklich in Berührung kam. Doch zuallererst meine ich damit meine eigene Religion, das Christentum. Eine Religion, von der ich glaubte, sie zu kennen, nun jedoch eines Besseren belehrt wurde, denn manchmal fühle ich mich so, als wären die Menschen, mit denen ich zusammenlebe, Anhänger einer anderen Religion.
Einerseits ist das positiv gemeint, da mich das irgendwie fasziniert, wie stark die Menschen hier glauben und wie viel Kraft ihnen der Glaube geben kann und ich so auch andere Seiten des Christentums kennenlerne. Andererseits ist das aber auch eine negative Erfahrung für mich und eine Sache, bei der ich mehr an meine Grenzen stoße, als bei vielen anderen.

Die Ausübung des Glaubens und was die Menschen glauben ist doch ziemlich anders, als ich es von Zuhause kenne und genau deswegen unverständlicher für mich, als eine Religion, die mir zuvor unbekannt waren. Meine größten Problemzonen versuche ich nun einmal, irgendwie in Worte zu fassen: Zunächst ist es das Missionarische, was hier ziemlich tief verankert ist. Mindestens 90% unserer Kinder sind keine Christen. Trotzdem müssen sie jeden Morgen und jeden Abend zu Gott beten und eine Stunde am Tag den Religionsunterricht besuchen, Texte und Lieder auswendig lernen und diese in der Öffentlichkeit aufsagen, so tun, als wäre es ihr Glaube.
Selbst wenn ich sage, dass wir in Deutschland etwas anders glauben und die Bibel nicht immer wortwörtlich nehmen, sondern das Geschriebene interpretieren, versuchen, es auf die heutige Zeit zu übertragen, dann wird das nicht akzeptiert und es wird solange versucht, mich von dem zu überzeugen, was hier geglaubt wird, bis ich das Gespräch abbreche. Diskussionen über Religion haben bis jetzt noch nie zu einem Ergebnis geführt und ich versuche tatsächlich, sie zu vermeiden.

Eine weitere Sache, die mir Probleme bereitet, ist, dass Religion über allem steht. Bevor man einmal an sich selbst denkt und das macht, was man selber als richtig empfindet, wird geschaut, ob das mit der Religion vereinbar ist. Wenn man nicht jeden Sonntag in die Kirche und nicht jeden Tag zweimal zum Gebet geht, nicht täglich in der Bibel liest, sondern wie ich lieber einen guten Roman, dann wird man komisch angeschaut und gilt als schlechter Christ. Unsere Lehrerinnen lassen lieber das Frühstück ausfallen und haben bis zum Mittag Hunger, als dass sie zu spät zum Gebet kommen. Ich selber habe häufig nur sonntags Zeit, meine Wäsche zu waschen und etwas zu putzen. Da kam es auch schon vor, dass ich einmal nicht in die Kirche gegangen bin, weil ich lieber am Nachmittag zu den Kindern wollte, als es dann zu machen. Auch das wurde nur mit einem schockierten und vorwurfsvollen Blick angenommen.
Ein anderes Beispiel ist, als eine Freundin (Hindu) mich und eine unserer Lehrerinnen (Christin) zu einem Sonntagsausflug eingeladen hat. Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, so etwas selten Vorkommendes wegen dem Gottesdienst ausfallen zu lassen. Die andere Lehrerin wollte jedoch absagen, um in die Kirche zu gehen. Im Endeffekt haben wir dann gewartet, bis die Kirche vorüber war, um dann danach eigentlich viel zu spät zu starten, weshalb wir erst sehr spät abends wiederkamen.
Die Prioritäten sind hier einfach anders gesetzt und für mich nicht wirklich verständlich. Will Gott denn nicht, dass wir uns selbst verwirklichen?

Der letzte Punkt, den ich zu diesem Thema ansprechen möchte, ist, dass ich das Gefühl habe, dass sich die Leute hier ziemlich häufig auf der Religion ausruhen. Anstatt selber einmal über etwas tiefer nachzudenken, wird gesagt, dass es Gottes Wille sei. Anstatt sich mehr anzustrengen, um etwas zu erreichen, heißt es, dass es in Gottes Hand läge und man dafür beten müsse. Selber könne man es nicht beeinflussen. Wenn etwas Gutes passiert, bei dem es auch teilweise ganz offensichtlich ist, dass es der Verdienst einer bestimmten Person ist, dann wird Gott für seine Gnade und Hilfe gedankt, nicht der/dem Verantwortlichen. Außerdem wird die Bibel in meinen Augen zu wörtlich genommen, gar nicht wirklich über den tieferen Sinn, über Symbole und Metaphern nachgedacht, wodurch viele Gedankengänge meiner Mitmenschen hier gar nicht richtig in die heutige Zeit passen. (Wenn es aber um so etwas wie Gewaltlosigkeit geht, dann wird die Bibel ignoriert.) Ich möchte mit dem Geschriebenen keinesfalls sagen, dass die Art von Religion, wie sie hier ausgelebt wird, falsch ist. Es ist lediglich für mich selber nicht ganz verständlich. Aber ich denke, Glaube sollte jedem persönlich überlassen werden.

 

Oft werde ich gefragt, ob ich denke, dass ich mich bereits verändert habe. Normalerweise würde ich darauf antworten, dass ich immer noch die alte Sophia bin. Irgendwie ist das ja auch so. Aber zum Teil wäre es auch eine Lüge, denn durch den regelmäßigen Kontakt zu meinen Freunden und meiner Familie zuhause, wenn ich höre, wie sie über bestimmte Dinge sprechen und denken, bemerke ich, dass mein „altes Ich“ das wahrscheinlich als total normal empfunden hätte, es aber häufig mit meinem „neuen Ich“ nicht mehr vereinbar ist. Ich will damit nicht sagen, dass ich ein völlig neuer Mensch bin. Meist ist das, was sich verändert hat, nur ganz klein und unscheinbar. Vielleicht bemerken es Andere gar nicht. Aber ich selber bemerke es und darüber bin ich dankbar, weil ich weiß, dass ich mich entwickelt habe.

 

An dieser Stelle möchte ich außerdem einmal DANKE sagen! Danke, dass ich die Möglichkeit habe, das alles erleben zu dürfen. Danke für die vielen Erfahrungen, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich jetzt bin, die mich wachsen ließen, die mir zeigten, wie ich meine eigenen Grenzen überwinden kann, über mich selber hinauswachsen kann. Danke an alle Menschen, die mich auf meinem Weg begleitet haben: Meine Familie, die jederzeit für mich erreichbar war und immer ein offenes Ohr für mich hatte, die mir trotz vieler Kilometer, die uns trennen, näher war als jemals zuvor! Die Freunde, die mich trotz der Entfernung nicht vergessen haben. Ich bin sehr froh, euch an meiner Seite zu haben! Das Team der EMS, dass mich schon ein dreiviertel Jahr, bevor es überhaupt losging, begleitet hat und auch jetzt, wo ich in Indien bin, jederzeit erreichbar ist. Ihr hättet euren Job nicht besser machen können! Meine Mitfreiwilligen, die zu wahren Freunden für mich wurden und mit denen das Teilen der erlebten Momente noch einmal auf einer ganz anderen Ebene stattfinden kann! Und zu guter Letzt alle Menschen in meiner Einsatzstelle: Insbesondere die Kinder, die auch der Grund dafür sind, dass ich hier bin, die mich so oft aufheiterten, mir ein Lächeln ins Gesicht zauberten, wenn mir nicht nach Lachen zumute war, mit denen ich so viele tolle Momente erlebt habe, die keine Erwartungen an mich hatten, mein Verhalten nicht werteten oder mich aufgrund dessen verurteilten. Aber natürlich auch alle, die hier arbeiten, die, die zu meinen Freunden geworden sind und mit denen ich hier tagtäglich zusammen bin. Dabei möchte ich insbesondere Joseph, dem Schulleiter danken, der mein bester Freund in Indien wurde, der immer für mich da ist, mir bei allem hilft, mit dem ich über alles reden kann und bei dem ich nicht versuchen muss, mich wie eine Inderin zu verhalten.

DANKE!!!

 

Wie ich schon gesagt habe: Meine Aufgabe als Freiwillige ist nicht, Berge zu versetzen und alles zu verändern. Vielmehr bin ich hier, um den Kindern einen kleinen Teil meiner Zeit zu schenken. Aber den größten Gewinn habe ich persönlich, denn ich lerne mich selber auf eine ganz neue Art und Weise kennen, stoße an meine Grenzen und finde heraus, wie ich diese überwinden kann. Ich entdecke ein neues Ich, was neue Ansichten vertritt und neue Schwerpunkte im Leben setzen möchte. Ich setze mich mit unbekannten Dingen auseinander, erlebe andere Lebensweisen und Kulturen auf eine Art und Weise, wie ich es in einen Urlaub niemals könnte und lerne, das Fremde zu tolerieren und zu akzeptieren, was nicht immer einfach ist. Und genau das ist die Absicht eines solchen Freiwilligeneinsatzes, denn wir müssen definitiv mal von unserem hohen Ross herunter steigen, die Welt mit neuen Augen sehen und erkennen, dass unsere westlichen Ansichten nicht die einzigen und vor allem nicht die einzig richtigen sind. Denn genau das ist doch die Voraussetzung, dass viele unterschiedliche Menschen auf der ganzen Welt friedlich nebeneinander leben können. Genau das ist es doch, was den Begriff der Menschlichkeit ausmacht.

 

Mit all diesen Erkenntnissen schaue ich in die Zukunft. Ich bin gespannt, was die wenige Zeit, die mir hier in Indien noch bleibt, für mich bereit hält. Ich freue mich, dass das Wiedersehen mit meiner Heimat nun in greifbare Nähe rückt, bin aber auch sehr traurig, dass das das Ende meines Freiwilligendienstes bedeutet. Wie sagt man so schön? Das eine Auge lacht, das andere weint...

 

Bis bald,

Eure Sophia

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Projekt Obstsalat (Foto: EMS/Hildenbrandt)
Projekt Obstsalat (Foto: EMS/Hildenbrandt)
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Kuchen macht glücklich (Foto: EMS/Hildenbrandt)
Kuchen macht glücklich (Foto: EMS/Hildenbrandt)