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10 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Special School, Mädchenheim, Kinderkrippe, Krankenhaus oder Altenheim? Langweilig wird es mir nicht! (Foto: EMS/Gieseke)
Special School, Mädchenheim, Kinderkrippe, Krankenhaus oder Altenheim? Langweilig wird es mir nicht! (Foto: EMS/Gieseke)
19. März 2019

Freiwilligendienst? Erwartungen und Erfahrungen

Miriam

Miriam

Indien
arbeitet in einem Mädchenheim mit
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Und was machst du so nach dem Abi?

Auf die Frage habe ich lange Zeit keine Antwort gewusst. Als ich mich über Freiwilligendienste informierte und durch mehr Glück als Verstand bei der EMS gelandet bin, war ich immer noch am Zweifeln. Die Zweifel haben mich auch durch die ganze Vorbereitung begleitet: Ob es wirklich die richtige Entscheidung war? Das habe ich mich oft gefragt. Jetzt gibt es Feedback!

Alltag: Langweilig oder abwechslungsreich? Sinnlos oder erfüllend?

Ich war zunächst skeptisch, ob ich die Aufgaben als "Englisch-Nachhilfe" (ohne Telugu zu sprechen oder das Schulsystem zu kennen), Spielpartnerin, Projektleiterin oder in der Arbeit mit geistig Behinderten, wo ich fast keine Vorerfahrung hatte, für mich persönlich über zehn Monate als sinnvoll und erfüllend erachten würde. Die Arbeit mit Kindern und geistig Behinderten aus Deutschland hat mir Spaß gemacht, aber es war nie eine Berufsoption für mich, Erzieherin oder Lehrerin zu werden.

Jetzt kann ich sagen: Ich habe sinnvolle Tätigkeiten für mich gefunden, die mir auch Spaß machen. Lehrerin werden will ich trotzdem nicht, aber für diese Zeit finde ich es sehr schön, Zeit mit den Mädchen aus dem Heim zu verbringen oder kleine Projekte und Ausflüge für sie zu organisieren. In der Special School denke ich mir auch sehr, sehr gerne abwechslungsreiches Programm für die Kinder aus mit Mal-, Bastel- oder Tanzprojekten, Ausflügen oder kleinen Spielen. Für mich ist ausschlaggebend, dass ich sowohl im Mädchenheim als auch in der Special School sehr viel Freiraum für eigene Ideen habe. Bis die Ideen auch gekommen sind, hat es zwar auch gedauert, weil ich die Gruppen erst kennenlernen musste, aber ich kann in Absprache mit den Leitern eigentlich alles machen, was ich will.
Weil es ohne meine Einbringungen in beiden Einrichtungen sehr wenig Programm gibt, unterstützen mich auch alle dabei. Zusammengefasst würde ich sagen: Ich musste in meine Aufgaben selbst einen Sinn rein- und die Langeweile rausbringen. Jetzt bin ich aber sehr glücklich damit und habe schon viel Erfahrungen sammeln können.

Bei meiner Einsatzstelle habe ich außerdem das Riesenglück, dass mir auch noch viele andere Einrichtungen offenstehen. Auch wenn für die Stelle nur das Mädchenheim und die Special School als Aufgabengebiete aufgeschrieben sind, kann ich meine Zeit auch in einer Kinderkrippe, einer englischen Vorschule oder einem Altersheim verbringen. Und das sind alles schöne Projekte, die von netten Leuten geleitet werden und die ich sehr gerne besuche, wenn ich Zeit habe. In den Dörfern gibt es auch ein Programm für taubblinde Kinder, dass ich genauer kennenlernen will, wenn die Special School in zwei Wochen schließt. Für mich persönlich kann ich auch die einmalige Erfahrung machen, im Krankenhaus, das zusammen mit den anderen St. Mary's Projekten gegründet wurde, bei Operationen dabei zu sein und unter Anleitung etwas zu helfen. Über ein Sozialprojekt mit kostenlosen Operationen von Ärzten aus den USA habe ich die indischen Ärzte und Krankenschwestern kennengelernt und kann jetzt die etwa alle zwei Wochen stattfindenden Operationen begleiten. Für mich eine wirklich tolle Chance und Erfahrung, die mich auch darin bestärkt hat, Medizin zu studieren. Ich kann also sagen, dass mein Alltag extrem abwechslungsreich ist und ich meine Aufgaben auch für sinnvoll halte.

Heimweh

Bei meinem Schüleraustausch in Südafrika 2016 hatte ich kaum Heimweh. Obwohl der Zeitraum auch viel kürzer war, hätte ich nicht erwartet, dass Heimweh für mich ein großes Problem darstellen würde.

Ich hatte es sehr unterschätzt, wie stark Heimweh sein kann. Das heißt für mich aber nicht "Ich will jetzt sofort nach Hause" sondern, dass ich bestimmte Sachen vermisse. Ich vermisse es, Deutsch zu reden und damit die Gewissheit zu haben, mich verständlich machen zu können und mich in normale Gespräche integrieren zu können. Die Sprachbarriere hat da einen riesigen Einfluss. Obwohl ich immer in super Gesellschaft bin kann man sich durch die Sprachbarriere trotzdem schnell einsam fühlen. Ich vermisse es, mit anderen Musik zu machen, die mir wirklich etwas bedeutet. Und ich vermisse es, in einem Sozialgefüge zu leben, das ich kenne und verstehe. In dem ich mir keine Sorgen machen muss, dass ich als unmoralisch gelte, weil ich einen Freund habe und ab und zu mal ein Bier trinke. Und natürlich vermisse ich meine Familie, meine Freunde. Aber viel wichtiger - ich weiß auch, dass ich diese Sachen bald zurückbekomme, anders als meine Erfahrungen und Beziehungen hier, die wohl eine einmalige Erfahrung bleiben.

Integration

Auch darüber habe ich mir Sorgen gemacht. Was wenn ich keinen Anschluss finde?

Diese Sorgen kann ich jedem nachfolgenden Freiwilligen komplett nehmen. Innerhalb des Projekts arbeiten und leben so viele Menschen, die gerne Zeit mit den Freiwilligen verbringen wollen. Über die Musik und die Kirche habe ich auch außerhalb Freunde in meinem Alter und mit meinen Interessen kennengelernt. Für mich ist eher die Challenge, auch Zeit für mich zu finden und Einladungen auch mal entschieden abzulehnen. Die Sprachbarriere hält einen leider ein bisschen davon ab, allzu komplexe Gespräche zu führen, weil viele Leute auch nur wenig Englisch sprechen.

Ehrengast-Rolle

Das ist für mich auch ein wichtiger Teil der Integration. Bei meinem Schüleraustausch war ich nach ein paar Wochen schon eher eine Mitschülerin als eine Ausländerin.

Nicht so in meinem Projekt: Auch nach sechs Monaten werde ich wie ein Ehrengast behandelt. Schön ist das, weil viele Leute gerne und viel mit mir reden und mir das unglaublich bei der Integration geholfen hat. Viele Leute haben aber auch das Gefühl, mir unbedingt, um jeden Preis alles recht machen zu müssen. Im Projekt wird extra für mich gekocht. Wenn ich einen Raum betrete wird mir sofort ein Stuhl angeboten. Wenn ich selbst Geschirr spüle oder koche wird mir Geschirr und Schneidemesser aus der Hand gerissen. Selbst mit gleichaltrigen Freunden, mit denen ich eigentlich auf einer Augenhöhe bin spüre ich die Distanz durch Extrabehandlungen. Diese Distanz beruht auf noch einer viel, viel größeren Distanz: Die ungleiche Verteilung von Bildung, Arbeitsplätzen, finanzieller Förderung, Luxusgütern und, und, und, die wir in Deutschland genießen können. Damit konfrontiert zu werden ist nicht leicht, aber notwendig um über die globalen Zusammenhänge und unsere Rolle als deutsche Staatsbürger zu lernen. Wenn ich hier eine Extrabehandlung bekomme ist mir das oft unangenehm. Dabei ist sie nur das sichtbare Resultat der Extrabehandlungen, die wir in Deutschland als unseren Alltag bezeichnen dürfen.

Aufmerksamkeit

Über diesen Teil habe ich mir im Vorhinein nicht so viele Gedanken gemacht. Ich habe schon erwartet, dass man als Weißer mal angesprochen wird, wo man herkommt und dass auch gerade Bettler verstärkt zu den Europäern kommen, aber nicht mehr.

Die Aufmerksamkeit ist aber wirklich sehr, sehr groß. Das liegt auch daran, dass kaum Europäer nach Telangana, meinen Bundesstaat kommen. Manchmal fühle ich mich wie ein exotisches Tier oder ein Superstar oder beides. Ich kann eigentlich nicht irgendwo hingehen ohne die ganze Zeit angestarrt und angesprochen zu werden. Ich habe so zum Beispiel im Zug auch schon echt supernette Leute kennengelernt. Meist kommen diese Bekanntschaften aber nicht über den Smalltalk oder das erste gemeinsam gemachte Foto hinaus. Ganz oft wird auch einfach nur ein Foto mit mir gemacht - auch mal ohne zu fragen oder auch mit meiner ausdrücklichen Ablehnung.
In meinem Projekt gehen so viele Menschen ein und aus, dadurch viele Leute auf dem Gelände leben, dass ich auch hier oft genug Fotoanfragen bekomme. Ganz schlimm wird es für mich aber draußen, wo ich auch oft bei Veranstaltungen dabei bin, vor allem in kleineren Städten oder bei Hochzeiten. Das klingt hier bestimmt als würde ich mich unnötigerweise über etwas aufregen, aber es ist mir einfach viel zu viel - vor allem, wenn man sich noch nicht mal mit mir unterhält, sondern nur das Handy zum Fotos machen zückt. Durch diese Erfahrungen und Fremde, die mich in ihrem ersten (und einzigen) Satz fragen, ob ich sie bitte nach Deutschland bringen kann, indem sie meine Liebhaber werden, oder ob ich bitte ihre Operation/Schulgebühren/Prüfungsgebühren zahlen kann, bin ich diesen Straßen-Bekanntschaften inzwischen ziemlich abgeneigt, vor allem wenn das erste Wort "Selfie, Selfie!" ist. Die Ursache hierfür liegt auch in dem extremen Geld- und Machtgefälle, vielleicht auch noch im Kolonialismus. Deswegen versuche ich, mich nicht zu sehr darüber zu ärgern.

Kontrolle

Nach den EMS-Seminaren war ich ein bisschen besorgt, dass ich kaum aus meinem Projekt rauskomme, oder immer nur in Begleitung. Uns wurde auch da schon erzählt, dass die Projekte ihre Aufgabe, auf uns aufzupassen sehr ernst nehmen. Und auch allgemein finde ich Kontrolle oft störend, weil ich auch zuhause am liebsten komme und gehe, wie es spontan eben passt. Dann nervt es mich, wenn ich genau sagen muss, wann ich wo bin.

Wie gesagt passen die Projekte schon sehr gut auf uns auf. Das ist aber auch gut, am Anfang kannte ich die Wege ja auch gar nicht, aber mit der Zeit konnte ich meinen Radius ziemlich ungestört erweitern und kann komplett selbstständig meine Wege gehen. Ich muss Bescheid sagen, wenn ich woanders esse, damit sie nicht für mich kochen, und wo ich esse sollte auch abgesegnet werden. Längere Ausflüge mit Leuten außerhalb der Projekte hier werden auch nicht gerne gesehen, aber insgesamt bin ich sehr frei. Trotzdem weiß hier jeder extrem gut über alle meine Schritte Bescheid, weil ich von sämtlichen Leuten auf dem Campus, von den Mädchen, meinen Nachbarn oder Mitarbeitern ständig gefragt werde, was ich wo und wie viel gegessen habe, wo ich gerade hingehe, wo ich vor einer Stunde war, wo ich vor zwei Stunden war, wann ich zuletzt mit meiner Familie telefoniert habe, warum ich nicht zum Morgengebet gekommen bin und alles Erdenkliche andere. Das kann schon auch anstrengend sein, wenn du gerade zu deinem Zimmer gehst um die erste ruhige Minute deines Tages zu haben oder du ganz dringend auf Klo musst, oder nicht zur Kirche gehst, weil diese eh auf Telugu ist und ich die drei Stunden auch anders nutzen kann. Natürlich beruht das Ganze auf Interesse und Gesprächsfreude, für die ich auch wirklich sehr dankbar bin. Getratscht wird hier zusätzlich auch noch sehr gerne, wenn etwas Ungewöhnliches passiert.

Ansprechpartner EMS

Jetzt geht es auch mal um die EMS, die das Ganze für uns richtig toll organisiert. Ich hab mich bei der EMS von Anfang an richtig gut aufgehoben gefühlt und will erstmal ein riesiges Danke an alle loswerden, die uns beim ÖFP voller Mitgefühl, Begeisterung und Herz unterstützen. Denn das schöne ist, dass nicht nur das ÖFP insgesamt richtig gut organisiert ist, sondern dass wir uns immer der Unterstützung und Hilfe in schwierigen Situationen bewusst sein können. Wir haben so viele Ansprechpartner, die für uns wirklich da sind und unsere Situation und auch menschliche Unsicherheiten und Fehler total nachvollziehen können. Das gibt mir eine Menge Sicherheit, weil ich keine Scheu haben muss, mich an irgendeinen offiziellen Projektmanager wenden zu müssen, den ich vielleicht gar nicht kenne oder dem ich nicht vertrauen will. Danke dafür!

 

Insgesamt haben sich Sorgen von mir kaum bestätigt. Dafür bin ich auf Schwierigkeiten gestoßen, die ich nicht erwartet hatte. Meine Erfahrungen haben die Erwartungen stark übertroffen! Auf jeden Fall wurden meine Zweifel zerstreut, ob das die richtige Entscheidung war, denn ich bin sehr dankbar für meine Erfahrungen hier und würde die gleiche Entscheidung wieder treffen.

Bis dann, eure Miri

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Nervig - das Fotomachen mit Unbekannten habe ich bei ihrem Besuch meiner Schwester überlassen (Foto:EMS/Gieseke)
Nervig - das Fotomachen mit Unbekannten habe ich bei ihrem Besuch meiner Schwester überlassen (Foto:EMS/Gieseke)
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Einsam? Auf dem Gelände findet man mich fast nie allein (Foto:EMS/Gieseke)
Einsam? Auf dem Gelände findet man mich fast nie allein (Foto:EMS/Gieseke)