Weltweit erlebt
ÖFP

Weltweit erlebt

10 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

info_outline
Nach der Hochzeitszeremonie werden Blumen und Reis über das Brautpaar gestreut (Foto:EMS/Gieseke)
Nach der Hochzeitszeremonie werden Blumen und Reis über das Brautpaar gestreut (Foto:EMS/Gieseke)
25. April 2019

Arrangierte Ehe - Partnerschaft und Familie

Miriam

Miriam

Indien
arbeitet in einem Mädchenheim mit
zur Übersichtsseite

Die Familie - Zentrum des Lebens

Ehe und Familie – darüber habe ich mir in Deutschland wirklich noch nicht viele Gedanken gemacht – wieso auch? Mit 19 fühle ich mich noch nicht genötigt, mir Gedanken über Hochzeit und Familienplanung zu machen. In Indien ist das Thema für mich sehr viel präsenter. Der Stellenwert von Familie, Familienzusammenschließung und Familiengründung ist viel größer als in Deutschland.

Das ganze Thema ist so groß, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Der größte Unterschied ist wohl, dass Ehe eben nicht nur eine Partnerschaft, sondern eine ganze Familienangelegenheit ist.

Die meisten Ehen werden in Indien von den Eltern der Braut und des Bräutigams arrangiert. Etwa jede zehnte Ehe ist eine Liebesehe, mit steigendem Trend. Bei einer Ehe sollten bestimmte Rahmenfaktoren zusammenpassen, wie Alter, Bildung, Einkommensklasse und Kaste. (Kleiner Exkurs: Das Kastensystem gliedert die Gesellschaft hierarchisch in Gruppen. Das Kastensystem ist im Hinduismus begründet und offiziell abgeschafft, wird aber oft, vor allem auf dem Land, praktiziert.) Die Kaste verliert aber vor allem in der Stadt an Bedeutung. Stattdessen sind Bildung, Einkommen und Familienansehen wichtiger. Denn diese Faktoren bestimmen, wie gesichert die finanzielle und soziale Sicherheit des Brautpaars sein wird. Natürlich will jede Familie gerne in eine etwas "höher" stehende Familie einheiraten. Traditionell zieht die Braut nach der Hochzeit zur Familie des Bräutigams. Diese neue Großfamilie hat einen großen Einfluss darauf, ob sie dann Mutter und Hausfrau wird, ihre Bildung weitermacht oder arbeitet. Eine immer noch verbreitete Tradition ist die Mitgift, die die Braut in ihre neue Familie mitnehmen sollte. Ursprünglich sind das Haushaltsgegenstände und teurer Schmuck, der im Notfall auch als finanzielle Absicherung dienen soll. Heute wird die Mitgift oft in Form von Geschenken oder Finanzierung der (sehr teuren) Hochzeitsfeier "versteckt", da sie nicht mehr legal ist. Für eine Familie mit vielen Töchtern kann es den finanziellen Ruin bedeuten, diese zu verheiraten.

Das System der Eheschließung hat so auch einen großen Einfluss auf die Rolle der Frau. Weil die Frau meist zur Familie ihres Ehemannes zieht, ist die Förderung von Mädchen auch geringer. Wenn sie eine gute Bildung und einen guten Job bekommt, unterstützt sie damit die Familie ihres Ehemannes, während ein Sohn mit gutem Einkommen die finanzielle Verantwortung für seine Eltern hat, wenn diese alt oder unterstützungsbedürftig sind. Für die eigene Zukunft ist es so sicherer, Söhne zu haben und die Söhne gut zu fördern. Und das ist überhaupt nicht egoistisch, weil die Eltern durch das Fehlen von Sozial- und Rentensystem auf die Unterstützung der Kinder angewiesen sind. Männliche Föten werden dadurch seltener abgetrieben oder abgegeben, Jungen oft mehr Förderung und Freiraum gelassen.

Grundsätzlich sollte der Mann bei der Hochzeit schon arbeiten, damit er die Familie versorgen kann. Wegen dieser Tradition liegt die offizielle Altersgrenze der Ehe für Männer bei 21 Jahren und für Frauen bei 18 Jahren. Oft werden die Mädchen sehr früh verheiratet. Das ist extrem abhängig von der Einkommensklasse. In der Mittel- und Oberschicht heiraten die Mädchen, wenn sie ihre Bildung abgeschlossen haben und vielleicht auch schon arbeiten, also etwa mit 22-27. In armen Familien werden die Mädchen oft sehr früh verheiratet, zum Teil auch schon vor der legalen Altersgrenze von 18. Eine ehemalige Schülerin aus dem Mädchenheim bei mir wurde mit 14 verheiratet. Jetzt ist sie 18 und hat zwei Kinder. Der Grund für diese illegalen Eheschließungen liegt darin, dass die Mitgift für jüngere Mädchen niedriger ist. Die Eltern haben so die Möglichkeit, mit der gleichen Mitgift einen besseren Ehemann zu finden als zum Beispiel fünf Jahre später, sodass sie ihre Tochter in einer finanziell sicheren Zukunft wissen.

Ich finde das schwer. Zum einen ist es schrecklich, ein Mädchen in dem Alter zu verheiraten, wodurch sie vielleicht ihre Schule abbricht und oft auch sehr bald Kinder kriegt. Zum anderen kann ich nicht abschätzen, ob es dem Mädchen besser gehen würde, wenn sie mit 18 heiratet, dafür aber dann einen Ehemann ohne Bildung, so ohne große Zukunftschancen oder mit Alkohol- oder Gewaltproblem heiraten würde. Für viele arme Familien mit Töchtern ist die Ehe so zu Recht ein großes Problem, das Sorgen bereitet. Vor allem in den Städten lehnen einige Familien aber auch eine Mitgift ab.

Außerdem sind die Familien oft schon vorher befreundet oder um ein paar Ecken verwandt. Solche Bande erleichtern das Heiraten insofern, dass die Familien oft kompromissbereit sind. Eine gute Lösung ist das Heiraten in der Familie aber auch nicht immer. In der Special School, in der ich arbeite, gibt es einige geistig eingeschränkte Kinder, die aus Verwandtenehen kommen.

Eine arrangierte Ehe ist keine Zwangsehe. Im Gegenteil, viele junge Leute wünschen sich eine arrangierte Ehe. Ich persönlich glaube, dass es in dem gesellschaftlichen Kontext in Indien oft einfacher und problemfreier ist. Weil die Ehe eben nicht nur eine Partnerschaft ist, sondern wirklich zwei Familien miteinander verbunden werden. Die Familie spielt hier eine andere Rolle als in Deutschland. In Deutschland zieht das Ehepaar meist in eine eigene Wohnung und gründet eine Eltern-Kinder-Familie. In Indien zieht die Braut zu ihren Schwiegereltern, wodurch sich eine Großeltern-Eltern-Kinder-Tanten-Onkel Familie ergibt, zu der auch immer wieder Leute hinzukommen können, wenn ein anderes Familienmitglied ein Zuhause braucht. Der Wohnraum ist auch oft auf wenige Zimmer eingegrenzt, wodurch es wenig Privatsphäre, wenig Zweisamkeit, sondern dafür das Familienbündnis gibt. Die Bindung an die Familie ist so also wirklich wichtiger als die Bindung an den Ehepartner, wodurch eine von den Familien arrangierte Ehe konfliktfreier werden kann, weil getestet wird, wie gut die Familien zusammenpassen.

Was aber, wenn man sich in diesem Kontext trotzdem verliebt? Je nach Alter und Einkommen ist das ein kleineres oder größeres Problem und manche Familien und Paare ziehen eine Liebesheirat auch vor. Oft verliebt man sich ja in jemandem, der einem ähnlich ist und dadurch, dass das Umfeld meistens auch der eigenen Gesellschaftsschicht entspricht ist die Chance auch hoch, dass die Kriterien wie Alter und Bildung auch passen. Wenn die Eltern eine arrangierte Ehe bevorzugen, aber diese Kriterien passen und die Familien sich verstehen kann das gut funktionieren.

Letztendlich sind ja alle Gründe der Eltern gegen eine Eheschließung, dass sie Angst um die Zukunft ihrer Kinder haben. Sie wollen ja das Beste für ihre Kinder. Ich würde meinen Eltern auch vertrauen, dass sie eine gute Wahl treffen würden, wenn wir in diesem sozialen Kontext leben würden.  Der Unterschied zu Deutschland ist, dass das Entscheidungsgewicht tatsächlich bei den Eltern liegt. Wenn diese zum Beispiel gegen eine Liebesheirat sind kann das Paar sich entweder trennen oder heimlich heiraten.

Grundsätzlich ist eine Partnerschaft ohne Ehe hier nicht denkbar und nicht erwünscht, weil sie zu sehr in das Ehesystem eingreift. Sexualität ist vor der Ehe auch ein Tabu. Für eine Frau ist es auch extrem schwer, wenn nicht unmöglich, einen Ehemann zu bekommen, wenn sie von einer nicht ehelichen Partnerschaft Kinder bekommt. Deswegen sind die Eltern extrem vorsichtig, was Freundschaften und Bindungen zwischen Jungen und Mädchen angeht. Sie werden soweit wie möglich getrennt, sitzen zum Beispiel in der Schule/Kirche in getrennten Blöcken und verbringen ihre Freizeit nicht miteinander. Sie haben auch andere Hobbys, beziehungsweise haben die Jungs oft mehr Hobbys und die Mädchen verbringen mehr Zeit bei der Familie. Ich merke das zum Beispiel in meinen Musikkreisen hier. Ich kenne kein einziges Mädchen, was ein Instrument gelernt hat, weil diese Förderung vor allem Jungen ermöglicht wird. Dafür singen die Mädchen dann im Chor. Ich selbst bin aber im Instrumente spielen auf jeden Fall besser als im Singen und habe mich so in die Jungen-Musikgruppe integriert. Ich wurde nach ein paar Tagen gebeten, meine Zeit nicht mit ihnen zu verbringen, sondern mir weibliche Freunde zu suchen, weil die Leute sonst schlecht von mir denken würden. Eine wirklich schockierende Erfahrung habe ich an der benachbarten Schule machen müssen, zu der auch die Mädchen aus dem Mädchenheim gehen. In der neunten Klasse war ein Paar ohne Wissen der Familie zusammen. Als die Familie des Mädchens das herausfanden, brachten sie ihren Freund um. Aus dieser schrecklichen Tat kann man die Verzweiflung der Familie erahnen, die Angst um ihre Tochter hat. Angst, dass sie schwanger werden könnte, dass sie damit ihre Zukunft verspielt und das Familienansehen ruiniert. Es ist nicht einfach und es tut mir für beide Familien unglaublich leid, dass sie durch den sozialen Kontext und den Zufall der Liebe in diese Situation gekommen sind.

Dass durch die in manchen Familien sehr streng praktizierten Ehetraditionen Gewalt hervorgerufen wird ist leider kein Einzelfall. Schon öfter habe ich - zugegeben fast nur über Medien - von Morden durch den Konflikt von Ehesystem und Liebesbeziehungen oder im Bezug auf die Mitgift gehört. Auch das Familienansehen ist in diesen Konflikten von großer Bedeutung – manchmal von größerer Bedeutung als ein Menschenleben.

Das trifft auch im Bezug auf die Scheidung zu. Eine Scheidung wird generell von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Über geschiedene Paare, "broken families" (zerbrochene Familien), wie sie hier genannt werden, wird mehr als nur getuschelt. Ich glaube, dass sie in gewisser Weise auch von der Gesellschaft ausgegrenzt werden und für die Frau ist eine zweite Ehe quasi unmöglich. Wenn der Mann genug Geld verdient sollte er wieder eine Frau finden, dort ist der praktische Faktor der Sicherheit groß genug. Übrigens können Männer auch zwei Frauen gleichzeitig haben, wenn sie ihnen beiden Sicherheit bieten können. Für die Frau ist es finanziell und sozial unglaublich schwer, ihr Leben nach der Scheidung weiterzuleben. In einer befreundeten Familie fand die Frau den Selbstmord als Ausweg einfacher, als das bestehende Leben oder das Leben mit der Scheidung weiterzuführen. Das führt mir wieder vor Augen, dass eine Scheidung natürlich nichts Schönes ist, aber dass jeder das Recht auf eine Scheidung hat, ohne um seine Zukunft fürchten zu müssen.

Die Ehe selbst wird, wenn sie dann sicher ist, übrigens (je nach finanziellen Verhältnissen) ausgiebig gefeiert. Schon eine Woche vor der Ehe gibt es zahlreiche voreheliche Zeremonien, bei denen Braut und Bräutigam in ihrem eigenen Familienkreis gute Wünsche und Geschenke empfangen. Traditionell wird die Braut oder der Bräutigam bei der Naluku-Zeremonie mit Kurkuma eingerieben, was gut für die Haut und gegen Moskitos oder andere Plagegeister wirkt. Das soll ihnen Glück für die Ehe bringen. Vor dem Hochzeitstag gibt es von der Familie organisiert oft Tanz- und Musikabende und bei der Hochzeitsfeier wird der ganze Bekanntenkreis bis zu 2000 Leuten eingeladen. Statt dem Austauschen der Ringe werden hier Blumenketten ausgetauscht und die Frau kriegt eine Kette, die traditionell aus mit Safran gefärbtem Stoff, heute oft aus Gold ist, umgelegt. Nach der Hochzeit trägt die Frau diese Kette und Zehenringe als Zeichen, dass sie jetzt verheiratet ist.  

Wie ihr seht ist die Eheschließung ganz eng mit der Bedeutung der Familie und den Geschlechterrollen verbunden. Meine Mitfreiwillige Nathalie hat auch einen Blog über das Thema "Frauen in Indien" geschrieben, den ich gerne weiterempfehlen will, weil dieses Thema über die einseitige Darstellung der Medien mit sehr vielen Stereotypen besetzt ist.

Viele Grüße und danke fürs Lesen,

Miriam

info_outline
Meine Gastfamilie hat in diesem Park aus Liebe geheiratet - gegen den Willen der Eltern (Foto:EMS/Gieseke)
Meine Gastfamilie hat in diesem Park aus Liebe geheiratet - gegen den Willen der Eltern (Foto:EMS/Gieseke)
info_outline
Bei der Naluku wird die Braut mit Kurkuma eingerieben und dann mit Reis auf Kopf und Schultern gesegnet. (Foto: EMS/Gieseke)
Bei der Naluku wird die Braut mit Kurkuma eingerieben und dann mit Reis auf Kopf und Schultern gesegnet. (Foto: EMS/Gieseke)