Weltweit erlebt
ÖFP

Weltweit erlebt

10 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

info_outline
Meine Nachbarn: Der Mitarbeiter Kondaya und Jea, eine Lehramtstudentin (Foto: EMS/Gieseke)
Meine Nachbarn: Der Mitarbeiter Kondaya und Jea, eine Lehramtstudentin (Foto: EMS/Gieseke)
23. Februar 2019

Die Bedeutung eines körperlichen Handicaps

Miriam

Miriam

Indien
arbeitet in einem Mädchenheim mit
zur Übersichtsseite

Meine Einsatzstelle, das St. Mary's Rehabilitation Centre wird auch heute von allen als "Polio Home" bezeichnet. Das Polioheim ist seit 2014 geschlossen, da es aufgrund einer breiten Impfkampagne kein Polio mehr gibt. Es leben aber noch ein paar Studenten und auch Mitarbeiter hier, weil das Gelände im Gegensatz zu vielen Gebäuden barrierefrei ist. 

Oft schon habe ich mit Leuten, meiner Gastmutter Hema, den ehemaligen Polioheim-Kindern oder meinen Nachbarinnen darüber gesprochen, was ein körperliches Handicap hier bedeutet und viele unterschiedliche Standpunkte kennengelernt. Grundsätzlich ist es natürlich für jeden anders und kommt auch sehr auf den Grad der Behinderung an, die finanzielle Situation und die Lebenssituation an. Ich berichte hier von einem städtischen Gebiet und bin mir sicher, dass es auf den Dörfern sehr anders ist.

Barrierefreiheit ist glaube ich ein großes Problem, weil selbst öffentliche Gebäude wie Schulen oder Behörden keineswegs barrierefrei gebaut sind, ganz zu schweigen von den Wohnhäusern. Neben der Straße verläuft auch meist noch ein Meter "Trampelpfad" für die Fußgänger – für einen Rollstuhlfahrer kann dieser Streifen es schon unmöglich machen, das Haus dahinter selbstständig zu besuchen, auch weil sehr viele Häuser ein paar Stufen oder eine ziemlich steile Rampe haben. Die eigene Haussuche erschwert das natürlich, oft müssen Sachen noch umgebaut werden.

Einen Arbeitsplatz zu finden wird dadurch auch schon eingegrenzt. Ganz zu schweigen davon, dass insgesamt sehr viele (junge) Leute auf Arbeitssuche sind und innerhalb dieser Konkurrenz der Arbeitsplatz auch aufgrund gesellschaftlicher Vorurteile lieber zu einer nicht körperlich benachteiligten Person gegeben wird.

In Indien wird die Ehe traditionell von Eltern bzw. der Familie arrangiert. Bei der Partnerauswahl werden ganz viele Kriterien wie Kaste, Religion, Einkommensschicht und eben auch Handicaps miteinbezogen. Wegen den Herausforderungen, die körperlich Benachteiligte hier oft haben und der eventuell anfallenden zusätzlichen finanziellen Belastung wird das Handicap dort miteinbezogen.

Meinem Nachbarn Chintu habe ich ein paar Fragen dazu gestellt:

    "My name is Krupakar Chintu, I am 19 years old. I am studying in the first year for degree in Business and Computers. I live in the Polio Home since three years. In my free time I like listening to music, talking with my friends and chatting on Facebook. My goal is to become a governmental officer after I finished my studies."

    [Hallo, ich bin Krupakar Chintu, 19 Jahre alt. Seit drei Jahren wohne ich hier im Polioheim. Ich studiere im ersten Jahr an der Uni Computer- und Wirtschaftsstrategien. Mein Ziel ist, nach meinem Abschluss als Beamter zu arbeiten. In meiner Freizeit treffe ich gerne Freunde, höre Musik und chatte auf Facebook.]

That's a good job, isn't it? Do you think it will be harder for you because you have a walking problem?   [Die Arbeitsplätze vom Staat sind in Indien doch sehr angesehen, glaubst du für dich ist es wegen dem Gehproblem schwerer diesen Job zu bekommen?]

    "Yes, it will be harder. Some people will favour people without handicap, because of stereotypes."

    [Vielleicht. Das kommt vor allem darauf an, wer das Bewerbungsverfahren leitet. Manche Leute haben Vorurteile.]

How do you go to your college or other places? Can you use the public transport?    [Wie kommst du im Moment zu deinem College oder anderen Orten? Kannst du auch öffentliche Verkehrsmittel benutzen?]

    "I always use my tricycle. It's around one or two kilemetres to my college. When I enter the college building one friend will carry me up the stairs every day. Inside I use my walker. With the tricycle I can go everywhere on the normal streets. I can also use the public transport. Autorickshaws are fine, but sometimes they charge more, because they have to wait and the walker is taking more space. Buses and trains have steps so I need some support to get in. But as the railway station in Khammam has lifts, I can get to the platforms easily."

    [Ich fahre überall mit meinem Tricycle (Dreirad mit Handkurbel) hin. Zu meinem College sind das 1-2 km. Dort trägt mich dann ein Freund die Stufen hoch und innerhalb des Colleges benutze ich meinen Walker (Gehgestell). Ich komme eigentlich überall gut hin, weil ich mit dem Tricyle auf der Straße fahren kann. Öffentliche Transportmittel kann ich auch benutzen. Die Autorickschas verlangen manchmal mehr, weil sie warten müssen und ich mit dem walker mehr Platz brauche. In Khammam gibt es beim Bahnhof Aufzüge, ich komme also leicht zum Gleis. Ich brauche allerdings Unterstützung um in den Bus oder Zug einzusteigen.]

Do you get any support by the government?  [Kriegst du staatliche Unterstützung?]

"Yes, they are giving 1 500 Rupies monthly. In April it will be raised up to 3 000 Rupies. For train tickets or bus tickets they will only charge 50% for persons with handicap."

[Ich kriege 1500 Rupies (≈20€) monatlich. Ab April wird das auf 3000 Rupies(≈40€) monatlich angehoben. Außerdem muss ich bei Bus- oder Zugfahrten nur 50% des Preises zahlen.]

Do you feel like people treat you differently?  [Findest du, dass du in der Gesellschaft anders behandelt wirst?]

    "Some people. I feel like girls would not show interest in me. Sometimes I feel lonely. For example when in college the boys should leave the class first. So everyone had to wait and was staring at me. I walked as fast as possible. It's not a good feeling when people are looking at you like that. In the breaks the other boys go to the ground floor, chatting, making jokes and having a good time. So then I feel lonely because I can't go there.  I also can not take part in games with them or play cricket. Before I liked to play cricket very much. Now I do these things only in my imagination or in dreams. I hope and I pray that by God's grace I will be able to walk again some day."

    [Von manchen Leuten ja. Ich glaube Mädchen interessieren sich weniger für mich. Manchmal fühle ich mich auch einsam, weil ich nicht bei allen Sachen mitmachen kann oder extra für mich etwas umgeplant wird. Ich persönlich fühle mich unwohl, wenn eine große Gruppe auf mich warten muss und mich dann alle anschauen, wie ich laufe. Und ich würde meine Pause gerne mit den anderen Jungs verbringen können oder vor dem College mit ihnen Kricket spielen. Das sind die Sachen, die ich früher gerne gemacht habe, die ich mir immer vorstelle oder davon träume. Ich hoffe und ich bete, dass ich mit Gottes Hilfe eines Tages wieder laufen kann und dann wieder mehr an der Gemeinschaft teilhaben kann.]

Mein Cousin Simon hat mir netterweise die gleichen Fragen beantwortet. Er arbeitet im Moment bei zwei Radiosendern (dem Klinikfunk und Antenne Mainz). Auch mit der Jugendpresse oder anderen Veranstaltungen (ich habe selbst leider keinen Überblick) ist er viel in verschiedenen Städten unterwegs.

    "Hi, ich bin Simon, 19 Jahre alt, Radio-Liebhaber, also Journalist, durch und durch glaube ich und damit Workaholic/Arbeits-junkie."

Wie kommst du zur Uni, dem Radio oder anderswohin? Wie klappt das mit öffentlichen Verkehrsmitteln?

     "Zur Uni bin ich bis jetzt mit der Straßenbahn gefahren. Ich wechsle jetzt zur Fachhochschule, wo ich mit dem Auto hinfahren muss. Ein Bus würde zwar fahren, aber dann müsste ich über eine schlecht ausgebaute Straße und vor allem den steilen Berg hoch. Das würde ich krafttechnisch wahrscheinlich gar nicht schaffen. Zum Klinikfunk fahre ich auch mit dem Auto, weil die Anbindung einfach super umständlich ist. Mit der Deutschen Bahn ist es sowieso oft kompliziert, weil ich dort jeden Zug 24 Stunden im Voraus anmelden muss. Weil ich in die Züge nicht alleine einsteigen kann, kommt dann eigentlich Unterstützungspersonal und das ist dann häufig nicht da oder es geht irgendwie unter. Die Busse hier sind ziemlich gut ausgestattet, alle Busse haben Rollstuhlplätze und Rampen. Insgesamt kann man in Mainz und Wiesbaden alles sehr gut mit Bus und Bahn erreichen, ich habe ja auch den Vergleich zu anderen Städten wie Hamburg und Berlin, wo das nicht so einfach ist oder nicht alle Plätze mit der U-Bahn erreicht werden können."

Kriegst du staatliche Unterstützung oder Vergünstigungen?

     "Ich kriege Pflegegeld, aber bin da noch nicht so bewandert, weil das meine Eltern übernommen haben. Die öffentlichen Verkehrsmittel kann ich mit Begleitperson kostenlos nutzen und es gibt auch steuerliche Vorteile."

Wie begegnen dir gesellschaftliche Vorurteile? Zum Beispiel bei der Arbeitsplatzfindung?

    "Klar gibt es gesellschaftliche Vorurteile. Zum einem im Umgang, dass die Leute einem nicht so viel zutrauen. Zum Beispiel auch, dass ich so einen attraktiven Job beim Radio habe und nicht irgendwo in der Werkstatt Vogelhäuschen baue. Meine Behinderung hat definitiv Auswirkungen auch auf meinen Job. Ich arbeite jetzt bei Antenne Mainz als freier Moderator und Redakteur und da war es so, dass ich erst drei Mal abgelehnt worden bin. Erst beim vierten Mal wollten sie es dann Mal versuchen und haben gesehen, dass ich meine Sache hier gerne und anscheinend auch ganz gut mache und haben mich dann gleich übernommen."

Ich nehme den Hauptunterschied in der Situation von Leuten mit Handicap darin war, dass in Deutschland von Seiten des Staats aus mehr gefördert wird. In Indien ist die Lebenssituation mehr abhängig davon, wie viel Unterstützung die Familie, Freunde oder Einrichtungen wie das Polioheim geben können und dadurch sehr unterschiedlich. Es gibt sehr viele Bettler mit Handicap, ich vermute daher, dass die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen sehr viel schlechter stehen. Schön ist es dann zu sehen, dass fast alle Mitglieder des Polioheims einen Arbeitsplatz und eine Familie haben, und dass auch meine Nachbarn vom St. Mary's Centre Unterstützung bekommen.

info_outline
Abends bringe ich Chintu Gitarre bei - bei der Weihnachtsfeier haben wir auch ein Lied gespielt (Foto:EMS/Gieseke)
Abends bringe ich Chintu Gitarre bei - bei der Weihnachtsfeier haben wir auch ein Lied gespielt (Foto:EMS/Gieseke)
info_outline
Das Gelände ist sehr groß, sehr schön und zum Großteil barrierefrei! (Foto:EMS/Gieseke)
Das Gelände ist sehr groß, sehr schön und zum Großteil barrierefrei! (Foto:EMS/Gieseke)