Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)
Von der Großstadt ins kleine Bergdorf
Das gelbe Dach des Kulturzentrums Centro Cultural Ayopayamanta (CCA) leuchtete uns schon von Weitem entgegen, als unser Bus über die rote Erde langsam ins Tal runterkurvte. Independencia wirkt für seine 5000 Einwohner ganz schön gross. Mein Zimmer liegt im Zentrum selber, vom Fenster aus sehe ich zum Garten des CCA auf der anderen Seite des Flusses. Nebst diesem Garten verfügt das Zentrum über eine eigene Radiostation, eine Werkstatt, ein Nähatelier, ein kleines Hotel und eine Bibliothek, in der ich nachmittags arbeite. Vormittags helfe ich in einem der beiden Kindergärten aus, die es hier in „Inde“ gibt. Mein Kindergarten steht in der Nähe der Dorfkirche, daneben eins der beiden Colegios und ein grosses Fussballfeld mit Zuschauertribüne. Weiter oben befindet sich das Sozialzentrum, in dem zwei weitere deutsche Freiwillige untergebracht sind.
Sobald man aber aus dem Dorf raus ist, weisen nur vereinzelte Lehmhäuser auf menschliches Dasein hin, vor denen Kühe und Schafe weiden. Ganz anders als in der Grossstadt El Alto, in der ich seit meiner Ankunft bis vor Kurzem gelebt habe.
Vor fast neun Wochen bin ich nervös und völlig übermüdet aus dem Flugzeug in Santa Cruz gestiegen. Bolivien begrüsste mich mit einem wunderschönen, milchig-roten Sonnenaufgang über den Palmen. Staunend stand ich da, inmitten einer Gruppe von 25 deutschen Freiwilligen des Bolivianischen Kinderhilfswerks (BKHW), die mir damals alle so fremd waren, wie dieses Land selber. Da ich die einzige Freiwillige der EMS bin, sollte ich hier am Programm der BKHW-Freiwilligen teilnehmen. Dazu gehörte unter anderem ein Ankunftsseminar, direkt an den ersten drei Tagen. Von den Lokalkoordinatoren des BKHW wurden wir am Flughafen abgeholt, um dann in Minibussen gemeinsam zu einem wunderschönen Anwesen etwas außerhalb von Santa Cruz zu fahren. Das Erste, was mir auf dieser Busfahrt ins Auge stach, waren die zahlreichen Müllhaufen, an denen sich dreckige Hunde sattfraßen. Daneben lieblose Häuser, deren Hauswände mit Evo – Sí und anderen Parolen bemalt sind und dem aktuellen Präsidenten Evo Morales einst zum dritten Mal in sein Amt verhalfen. Klar war mir vorher bewusst gewesen, dass Bolivien anders sein würde. Erst auf dieser ersten Fahrt merkte ich jedoch, was ‚anders’ alles bedeuten kann. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich dieselbe Strecke wahrscheinlich mit ganz anderen Augen sehen. Es wären vielleicht nicht mehr Dreck und Armut, sondern die leckeren empanadas (Teigtaschen mit Käsefüllung) in den Körben einer Verkäuferin oder die kunstvoll geflochtenen Zöpfe der señora vor mir im Bus, die mir auffallen würden. Es hat mich natürlich Zeit und ein paar Tränen gekostet, um diese erste Art von Kulturschock zu verarbeiten und diese neue Sichtweise zu erlangen. Doch gerade durch letztere lassen sich Tag für Tag immer mehr Gemeinsamkeiten ausmachen zwischen dem, was ich kenne und dem, was ich hier kennenlerne.
Von den drei Seminartagen sind mir abgesehen vom frischen Papayasaft einzelne gute Gespräche mit Freiwilligen und anwesenden Bolivianern in Erinnerung geblieben. Danach ging es für uns Freiwillige direkt weiter in unsere Projekte, die über das ganze Land verteilt sind. Nur für Lionel und mich war es noch nicht so weit: Erst würden wir mit sieben weiteren Freiwilligen nach La Paz fahren, um da unser Visum zu beantragen. Denn Independencia ist ein 5000-Seelendorf im Herzen der Anden, wo es weit und breit keine entsprechenden Behörden gegeben hätte.
Nach einer 14-stündigen Busfahrt von knapp 400 auf 3500 m über dem Meeresspiegel erreichten wir den höchstgelegenen Regierungssitz der Welt. Vom Busterminal in La Paz fuhren wir 20 Minuten mit dem Taxi den Hang hinauf in die Nachbarstadt El Alto. Diese befindet sich auf circa 4100 m.ü.M. und galt früher als Ghetto von La Paz, ist heute jedoch eine unabhängige und sogar die zweitgrösste Stadt Boliviens. Dort lebten Lionel und ich während insgesamt sieben Wochen mit vier dauerhaften El-Alto-Freiwilligen in einer chaotischen, aber genialen WG. Verwaltet wurde die WG von Filomena, einer Bolivianerin, die mit ihrem Mann und ihren drei Kindern (5, 14 und 18 Jahre) direkt über der WG-Küche lebt. Schon vom ersten Tag an war Filomena viel mehr als nur eine Gastgeberin, die Räume, sanitäre Anlagen und Küche zur Verfügung stellt und sauber hält. Wenn wir beispielsweise vom Essen auf dem Markt oder besser gesagt den bolivianischen Bakterien ans Bett gefesselt waren, animierte sie uns mit Coca-Tee und mütterlichen Umarmungen. Filomenas Kinder, insbesondere der gleichaltrige Gastbruder Gabriel, sowie gelegentliche gemeinsame Mahlzeiten verstärkten das Gefühl, in Bolivien ein Zuhause gefunden zu haben.
Nach einer Woche und vielen Besuchen bei Anwälten, Drogenpolizisten, Migrationsbehörden et cetera waren unsere Visa endlich in Bearbeitung. Für die anderen Freiwilligen begann somit die Arbeit in den Projekten. Da unser Projekt (Lionel ist mein Mitfreiwilliger dort) in Inde über 16h Busfahrt von La Paz entfernt ist, war es uns freigestellt, ob wir diese Übergangsphase mit Arbeit oder Freizeit überbrücken wollten. In einer Fundación, die Gewächshäuser mit ärmeren Familien in El Alto bauen und Workshops zu verschiedensten Themen anbieten, wie beispielsweise der Erziehung von Kindern, gesunder Ernährung oder Gartentipps, fanden wir das perfekte Zwischending. In sporadischen Einsätzen füllten wir Samen für den Verkauf an die Familien in Plastiksäckchen ab, die wir mit Kerzen selber zuschweißten, lauschten den von unseren Arbeitskollegen organisierten Workshops oder brachten vor Sitzungen das Büro auf Vordermann. In unseren vielen freien Stunden entdeckten Lio und ich jeden Tag ein bisschen mehr von El Alto und La Paz, meistens in bester Begleitung von unserem Gastbruder Gabriel. Zudem widmeten wir uns mit Herz und Seele der Aufgabe als WG-Mamas. Bald schon wussten wir genau, in welcher Ecke des Marktes (des größten, den es in El Alto und sogar in ganz Bolivien gibt) man das frischeste Gemüse zum besten Preis bekommt, wie man mit Gasherd auskommt und schwererziehbare WG-Mitglieder mit Abwaschplänen zur Kooperation bringt.
Nach sieben erlebnisreichen Wochen in El Alto konnten wir schliesslich unser Carnet abholen, unser Arbeitsvisum in Form eines Reisepasses. Inzwischen war mir die laute Kindermusik, die mehrmals pro Woche durch die Strassen El Altos dudelte, schon längst genau so vertraut wie das Gebell der Straßenhunde oder das ständige Hupen der Minibusse, welche die Menschen an Stelle von Autos, Zügen oder Postautos zur Arbeit bringen. Ich hatte bereits mein Lieblingsrestaurant in einem großen Comedor gefunden, wo mehrere Köchinnen in einem grossen Saal in benachbarten Kochnischen mehr oder weniger das gleiche Gericht zubereiten. Mein Mitfreiwilliger Lionel und ich aßen da fast täglich Suppe und einen Hauptgang für etwa umgerechnet einen Euro. Nur schon die Atmosphäre in diesen Comedors gefällt mir – sechs eifrige Frauen, die ihre Angebote laut ausposaunen und freudig mit der Hand wedeln, wenn sie uns sehen. Das Carnet war wie der Schlüssel zu einer neuen Welt, die viele Busstunden von diesem vertrauten Umfeld entfernt im kleinen Independencia liegt. Auf der einen Seite herrschte Vorfreude, endlich mit der Arbeit im Kulturzentrum anfangen zu können, auf der anderen Seite war da Wehmut, die vielen tollen Menschen und dieses neuerworbene Zuhause hinter uns zu lassen.
Die Umstellung war und ist nach wie vor groß, seit Lio und ich letzte Woche in Inde angekommen sind. Die Mitarbeiter des CCA haben uns aber alle freundlich aufgenommen und bis jetzt fühle ich mich sowohl im Dorf als auch auf der Arbeit wohl. Von dem her bin ich zuversichtlich, dass die nächsten acht Monate hier in Bolivien genauso spannend werden wie die ersten beiden. :-)
Saludos de Independencia, Naomi