Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)
"they will look at you, sister"
In der indischen Gesellschaft spielt Hierarchie eine große Rolle. Sie begegnet mir in den unterschiedlichsten Situationen und Spielarten: in Form der Geschlechterrollen, des Kastensystems, im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, durch einfache Einschränkungen und auch in der Kirche. Als junge westlich geprägte Frau beschäftigt mich, wie sehr die hierarchischen und sozialen Festlegungen die Menschen in ihrer Freiheit und persönlichen Entwicklung einschränken. Das bedrückt mich. Denn es gibt wenig Hoffnung, dies schnell ändern zu können; zu tief ist das hierarchische Denken in den Traditionen und der Kultur verwurzelt. In den folgenden Blogbeiträgen möchte ich zu Facetten dieses Themas schreiben.
Als Freiwillige aus Europa habe ich das Gefühl, in der Hierarchie etwas außen vor zu sein und anders behandelt zu werden als junge Inderinnen in meinem Alter. Aber natürlich beobachte ich, wie andere junge Frauen und Mädchen sich verhalten und behandelt werden. Und auch ich selbst kann hier nicht so frei leben, wie ich es aus Deutschland kenne. Hier leben die meisten Frauen und auch Männer bis zur Hochzeit zu Hause bei ihren Eltern und werden von ihnen behütet. Mädchen lernen schon früh, dass es draußen, sobald es dunkel ist, gefährlich ist, dass sie immer ein Tuch über den Ausschnitt und etwas Langes über die Hüfte tragen sollen, weil sie sonst die Blicke der Männer provozieren. Schon häufig passierte es mir, dass mir, als ich kurz die Einrichtung verlassen und einkaufen gehen wollte, ein Mädchen aus dem Heim hinterher gerannt kam, weil ich meinen Schal vergessen hatte. Sie sagte „they will look at you, sister“ und lieh mir ihren Schal, damit ich nicht ohne gehen musste.
Mittlerweile fühle ich mich auch irgendwie wohler, wenn ich meinen Schal dabei habe. Trotzdem finde ich es krass, wie hier alles Mögliche sexualisiert wird. Schon ein BH-Träger, der kurz hervorschaut, ist hier ganz schlimm. Ich wurde einmal eine Woche später von einem Freund angesprochen, dass jemand meinte, beim Prayer wäre mein BH-Träger ein bisschen zu sehen gewesen (ups!). Leider ist es für die meisten Frauen hier einfach normal, dass sie sich in ihren Saris und Tüchern verstecken müssen, damit sie die Männer nicht aus Versehen verführen. So sind sie aufgewachsen, das ist ihre Tradition. Traditionen an sich sind ja auch wichtig, stiften Identität, geben dem einzelnen Halt und Orientierung. Ich habe hier auch die Schönheit einiger Traditionen kennengelernt. In der kleinen Stadt, in der ich lebe, sind die Leute recht arm und noch sehr traditionell. Dort laufen die meisten Frauen im Sari oder in traditionellen Kleidern herum. In anderen großen Städten wie Bangalore und Kolkata habe ich aber auch schon viel anderes gesehen. Auf einer Reise habe ich am Bahnhof in Vizag ein Mädchen kennengelernt, die Jeans und Bluse trug. Sie war fast belustigt, dass ich nicht auch in Jeans herumlaufe, sondern im traditionellen Kleid.
Interessant fand ich, was sich veränderte, als ein Freund aus Deutschland zu Besuch kam. Vorher wurde ich regelmäßig von fremden Leuten angesprochen: Sie wollten Fotos mit mir machen oder wollten wissen, woher ich komme und was ich in Indien mache. Hier in der Gegend haben viele Leute, glaube ich, noch nie eine weiße Person außerhalb des Fernsehens gesehen. Als ich dann gemeinsam mit meinem Freund durch die Straßen lief, wurde nur noch er angesprochen. Weil ich bisschen Telugu spreche, auch das lustige und schwer verständliche Indisch-Englisch mittlerweile verstehe und mir leider auch selber angewöhnt habe, habe ich dann meist das Reden übernommen, worauf hin die meisten ganz erstaunt waren und es erst nicht von mir hören wollten. Dieses Phänomen haben wir bei Frauen und bei Männern beobachtet.
Mittlerweile gibt es in größeren Städten auch feministische Bewegungen, in denen sich Frauen zusammengeschlossen haben, die sich wehren. Bis sich auch in den kleinen Städten und Dörfern etwas ändert, braucht es aber noch viel Zeit und vor allem Bildung. Bei uns hat es ja schließlich auch sehr lange gedauert.