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14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Eine kleine Demo für die Rechte von Menschen mit Behinderung in einem kleinen Dorf (Foto: EMS/Pleuser)
22. Juni 2017

Menschen mit Behinderung in Indien

Lotte

Lotte

Indien
leistet ihren Freiwilligendienst in einem Mädchenheim
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Als Behinderte abgeschoben und abgestempelt oder herzlich angenommen?

In meinem letzten Beitrag habe ich berichtet, wie sehr besonders in den armen und ländlichen Regionen Indiens Mädchen und junge Frauen in ihrer freien Entfaltung und Entwicklung benachteiligt sind. Ganz besonders schwer haben es in dem bevölkerungsreichen Land auch Menschen mit Behinderungen.

Oft schieben die Familien ihre Kinder mit Behinderungen einfach ab und kümmern sich gar nicht mehr um sie. Haben sie die Möglichkeit, in einem Heim unterzukommen wie dem, in dem ich wohne, haben sie wahrscheinlich schon großes Glück. Es gibt so viele auf der Straße lebende Menschen mit Behinderungen. Da draußen haben sie eigentlich gar keine Chance auf irgendeine positive Entwicklung. Oft scheint ihnen nichts anderes übrig zu bleiben, als ihre Benachteiligung und ihr Elend auch noch öffentlich zur Schau zu stellen, um ihren Lebensunterhalt zu erbetteln. Dies zu sehen, ist nur schwer zu ertragen.

In unserem Mädchenheim, ursprünglich ein Heim für Poliokranke, gibt es eine Betreuerin für die Mädchen, meine „indische Mutti“. Sie hat Polio und kann sich ohne Rollstuhl nicht fortbewegen. Sie und ihr Mann haben zusammen ein Kind adoptiert und ich finde es sehr beeindruckend, wie sie zusammen alles managen. Meine „indische Mutti“ ist schon seit ihrer Kindheit in dem Heim, und für sie ist auch allein das ihre Welt. Denn außerhalb des Polio-Homes, in dem alles rollstuhlgerecht ist, hat sie kaum eine Chance, zu leben. Das Paar hat in der Einrichtung keinen leichten Stand. Es gibt Spannungen zwischen den beiden und anderen zum Teil höher gestellten Personen im Hostel. Ich habe nicht den Eindruck, dass es sich um eine faire Auseinandersetzung handelt. Es ist klar, dass eine behinderte Frau, die mit einem Rikscha-Fahrer verheiratet ist, keine guten Chancen hat, gehört und ernstgenommen zu werden. Seit einer Weile will die Familie gerne das Hostel verlassen, aber es gibt wirklich keine Alternative. Das hat mich schon sehr viel beschäftigt, weil ich sehr viel Zeit bei den Dreien verbringe. Es ist eine aussichtslose Situation: einerseits der vergleichsweise hohe Komfort im Hostel, andererseits der mangelnde Respekt. Durch ihre Geschichte habe ich gespürt, wie wenig durchlässig die Hierarchie in Ländern wie Indien ist. Die Familie ist voll und ganz vom guten Willen der Einrichtungsleitung abhängig. Rechte, die sie geltend machen könnten, gibt es für sie so gut wie nicht. Das scheitert schon allein am Bildungsstand und an den mangelnden persönlichen Beziehungen. Kommt es zu Konflikten, wird fast automatisch der Person geglaubt, die in der Hierarchie höher steht.

Allerdings erlebe ich in der Special School, in der ich arbeite, auch einen ganz anderen Umgang mit Behinderungen. Die Special School ist eine kleine Schule für geistig behinderte Kinder direkt auf dem Gelände des Mädchenheims. Dorthin kommen jeden Tag 10-15 Schülerinnen und Schüler. Die meisten sind schwerbehindert. Daher ist es dort weniger meine Aufgabe, zu unterrichten, als vielmehr den Schülern Kleinigkeiten zu vermitteln und Spaß mit ihnen zu haben. Dort erlebe ich so unglaublich schöne Momente gemeinsam mit Schülern und Mitarbeitern. Alle Mitarbeiter im Hostel gehen sehr kompetent, respektvoll und herzlich mit den Schülern um. Es ist schön für mich, auch diese andere Seite kennenlernen zu können. Solche Beispiele sehe ich auch als Keimzellen der Hoffnung für die Zukunft Indiens.

Ein Grund, warum die positiven Entwicklungen in Indien so langsam voranschreiten, ist sicher das Kastensystem. Als Außenstehende spürte ich zunächst fast gar nichts von diesem System. Aber dann gab es doch manchmal Situationen, in denen ich merkte, dass die Menschen nicht ganz offen sind und vor allem nicht frei sprechen. Dann fiel mir im Nachhinein auf, dass es vielleicht an der Kaste gelegen haben könnte. Einmal hat mir eine gute Freundin erzählt, dass sie einen Lover hat, in den sie verliebt ist und mit dem sie sich manchmal heimlich trifft. Sie wollte ihn unbedingt heiraten aber das ging nicht, weil sie aus unterschiedlichen Kasten kommen. Das war eigentlich das erste Mal, dass ich mitbekam, wie sehr die Kasten das Leben in Indien noch prägen. Auch habe ich letzte Woche erfahren, dass man immer noch einen Nachweis seiner Kaste vorzeigen muss um einen Job zubekommen. Dies zeigt, dass das Land noch hohe Hürden zu nehmen hat auf dem Weg zu einer wirklich offenen und sozialen Gesellschaft. Ich hoffe so sehr, dass es trotz vieler Rückschläge auf diesem Weg bleibt.

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Drei Schüler aus der "Special school" (Foto: EMS/Pleuser)
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Am Geburtstag der Betreuerin (Foto: EMS/Pleuser)