Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)
Mein Leben in Indien
Letzte Woche ist pünktlich mit dem Fünf-Uhr-Gottesdienst-zum-ersten-Tag-des-Monats der Monat November angebrochen und somit auch der dritte Monat seit meiner Abreise. Kaum zu glauben – aber wahr. Dass ich in all dieser Zeit nichts geschrieben habe, ist natürlich nicht zu entschuldigen, kann aber wenigstens als gutes Zeichen gelten. Tatsächlich ist so unglaublich viel passiert seit meinem letzten Blogeintrag, wie soll ich das bloß auf die paar hundert Wörter reduzieren?
Zuerst einmal ist passiert, dass ich mich verliebt habe. Verliebt in das Land, in die Leute, verliebt in den Lebensstil, die organisierte Unordnung, ja sogar die Musik die hier wirklich überall und zu allen Tageszeiten dazugehört. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht, wie ich in einem Jahr wieder an grünen Ampeln über die Straße gehen, mit lautlosen Deutsche Bahn Zügen fahren oder auch einfach 5€ für ein Mittagessen ausgeben soll (Fünf Euro – das sind 350 Rupien!). Der ständige Trubel, die Gastfreundschaft oder auch dieses andere Verhältnis zur Natur, all das sind Dinge die mich am Leben hier so unglaublich faszinieren. Alleine schon die Tiere, die sich hier überall tummeln; Hunde lauschen der Sonntagspredigt auf Tamil, Ziegen lassen sich selbst durch laut hupend anrasende Busse nicht aus der Ruhe bringen, Pfauen gibt es nicht nur auf Inseln. Wilde Affen, wilde Schweine, wilde Hühner. Und natürlich Kühe, ganz dem Klischee treu bleibend.
Um mal zu den oft gestellten Fragen überzugehen: Ja es ist heiß, wirklich sehr heiß teilweise. Seit der doch ziemlich beeindruckenden Ouvertüre des Monsunregens vor etwa einem Monat sind Moskitos und andere sympathische Viecher auch eifriger als sonst am Werk, dafür grünt die bei meiner Ankunft noch trocken-braune Landschaft plötzlich fast magisch auf. Ja, ich fühle mich ausgesprochen weiß, aber von der Gastfreundschaft, dem Interesse, das so viele der Menschen hier mir und meiner Kultur entgegen bringen könnten wir uns in Europa auch mal ein Stück abschneiden. Ja ich trage mittlerweile meistens Saris und ja, das Essen ist scharf und vegetarisch (Fleisch einmal pro Woche).
Essen bekomme ich zusammen mit Kasthuri akka, der Centerleiterin, mit der ich mich dank ihrer unglaublichen Europakenntnisse und ihrem fließenden Englisch über fast alles unterhalten kann und Chellakani akka, Schwester im Ruhestand, eine Art zweite Leiterin. Um es mal zu vereinfachen, gibt es morgens meistens Dossa, vorzustellen wie ein Reismehl-Pfannenkuchen mit Kokusnuss-Chutney. Mittags essen wir Reis, dazu Sambar (gekochtes Gemüse in einer Art Soße) und andere diverse Gemüsezubereitungen und abends Chappatti - kleiner Weizenmehlfladen mit verschiedenen Beilagen. Und nicht zu vergessen gibt es minimal zweimal am Tag Tee, für mich sogar ohne Zucker.
Außer der geregelten Essenszeiten gestalten sich meine Tage sehr divers, ich kann trotzdem mal probieren, in Kürze meine Aktivitäten hier im Center das da heißt "Women Worker’s Training Centre" (kurz WWTC) zu beschreiben. Die Arbeit organisiert sich um den Hauptcampus, wo sich neben der Kirche von Nagalapuram und dem Mädchenheim auch einige Gebäude mit Räumen zum Arbeiten, lernen, Gäste empfangen, kochen, essen, schlafen befinden. Hier habe auch ich mein eigenes, vergleichsweise sehr luxuriöses Zimmer.
Im Mädchenheim Magilchi Illam (glückliches Zuhause) wohnen 27 Mädchen von der ersten bis zur zwölften Klasse. Je nach Alter spiele ich mit ihnen, mache „Handwork“ (sprich Bastel)-stunden oder gebe Englischunterricht ─ nach der Schule und an den freien Samstagen (Sonntag ist hier wirklich Ruhetag). Wohnen tun hier auch die sogenannten Trainees, Mädels (oder sollte ich sagen junge Frauen) zwischen 16 und 24. Sie erhalten eine Ausbildung in Form von Computer-, Näh- und Bibelkursen. Außerdem bin ich gerade dabei, Englischunterricht mit ihnen zu starten, und einigen von ihnen bringe ich etwas Gitarre und Blockflöte bei. Auch geselle ich mich zum Nachmittagstee oder nach dem Abendessen gerne zu ihnen, wir haben da unsere ganz eigene Form der Kommunikation gefunden. Fünf Minuten Fußmarsch entfernt liegt das sogenannte „Farm“-gelände, wo es neben dem Day Care Center (ein Kindergarten wo ich mit den 30 Kindern, die täglich kommen, singe und spiele) auch ein Haus für die Pattis gibt (Patti = Großmutter). Hier verbringen ältere Frauen tagsüber die Zeit miteinander, wenn ich sie besuchen komme spielen wir Memory und Mikado, seit neuestem auch Jenga ─ einige von ihnen haben es echt drauf.
Tamilunterricht bekomme ich drei- bis viermal die Woche durch Chellakkani akka. Mittlerweile ist lesen und schreiben für mich kein Problem mehr (fürs Entziffern der Busziele und Kirchenlieder ganz praktisch), das mit dem Verstehen und Sprechen fällt mir dagegen noch schwer und ich merke leider, dass ich es nicht wie erhofft zu richtigen Gesprächen in der Sprache werde bringen können (hat eben nichts von germanischen oder romanischen Wurzeln, das schöne Tamil).
Außerdem dokumentiere ich ab und zu die größeren Events (Anti-Plastik-Kinder-Fahrrad-Rallye, Gesundheitscamp für Frauen aus den Dörfern, Renovierungsarbeiten im Center, und anderes) durch Fotos und Videos, die es dann zusammen mit Kasthuri akka auf Facebook hochzuladen gilt. Im „Office“ helfe ich auch sonst gerne, ich finde es so spannend, hinter den Kulissen zu sehen und daran mitzuarbeiten, was alles getan werden muss um all die Projekte des Centers zu ermöglichen. Außer den Aktivitäten, in die ich mich einbringen kann gibt es nämlich auch noch unglaublich viele andere, die auch Menschen (insbesonders Kinder und Frauen) aus zahlreichen Dörfern rund um das Center einbeziehen – das beginnt mit den 16 Activity Centern in den Dörfern, in denen Kinder nach der Schule viel lernen und sich in Projekten engagieren können und geht über finanzielle „Self-help-groups“ (Minikredite) bis zu Gesundheitscamps für Frauen. Kein Wunder also, dass das kleine Video, das ich aktuell über die Centerarbeit drehe, bis zur Veröffentlichung noch etwas Zeit brauchen wird. Also – Langeweile ist hier so ziemlich kein Problem. Die Zeit die mir für mich übrig bleibt (Freizeit will ich sie nicht nennen, als Freizeit empfinde ich hier ziemlich vieles) verbringe ich meistens auf der Dachterrasse: Atmosphäre genießen, telefonieren, meditieren, und ab und zu joggen, um den Bewegungsmangel etwas auszugleichen. Heimlich. Barfuß. Unter Sternenhimmel.
Um noch drei Sätze zu meinen besonderen Erlebnissen zu schreiben, so bin ich letzten Monat gleich zweimal verreist. Zuerst ging es mit Natalie, deren Einsatzstelle mit nur zwei Stunden Busfahrt Entfernung so nah an meiner liegt, dass sich die beiden Punkte auf der Indienkarte fast nicht unterscheiden lassen, nach Kanyakumari, dem südlichsten Punkt Indiens. Davon abgesehen dass dies unser erstes Busabenteuer war (definitiv ein Erlebnis für sich) durften wir zwei wunderbare Sonnenauf- und zwei herrliche Sonnenuntergänge von diesem Punkt aus genießen, den die Reiseführer als die Zusammenkunft dreier Meere beschreiben. Auch genossen wir ein bisschen unsere Unabhängigkeit im gemütlichen Flair der kleinen Stadt und übten uns im freundlichen „Nein danke“ zu den mobilen Kindertrommel-Kitschmuscheln-Perlenketten-Verkäufern.
In Mysore trafen sich knapp zwei Wochen später alle elf Freiwilligen zum Hindufestival „Dasara“, das besonders in dieser Stadt mit viel Pauken und naja, Trompeten-ähnlichen Instrumenten angeschlagen wird. Highlight hierbei war die Abschlussprozession des zehntägigen Festivals durch die ganze Stadt, mit geschmückten Elefanten, traditionellen Tänzen, und endlos vielen dekorierten Wagen. Was das Erlebnis allerdings unvergesslich machte waren zum einen die zigtausend Menschen, mit denen wir den Umzug von Tribünen vor dem prächtigen Amba-Vilas Palast aus bestaunten (von denen keiner auch nur eine Sekunde des Spektakels verpassen wollte), zum anderen der urplötzliche Stromregen, gegen den auch der für Festlichkeiten dieser Art aufgebaute Sonnenschutz nichts tun konnte (dafür aber die Plastikstühle, die ein jederman sich dann als spärlichen Schutz übers Haupt hielt).
Also: es geht mir wunderbar und ich bin unglaublich dankbar für alles, was ich hier erleben darf. Besonders dafür, mit wie viel Selbstverständlichkeit ich das tagtägliche Leben von Menschen mitleben kann, deren Kultur und Hintergründe so anders sind als meine. Im Grunde gibt es nichts, womit ich mir verdient hätte so in diese Gemeinschaft hier aufgenommen zu werden: Mit der Leiterin an einem Tisch zu essen, für die Kinder wie eine große Schwester zu sein, die Trainees als Freunde zu haben, so viele interessante Menschen kennenzulernen und auch einfach das hier mein indisches Zuhause nennen zu dürfen ─ mit Papageiengesang, Kokussduft und Palmenblick bei jedem neuen Erwachen.