Weltweit erlebt
14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)
Weihnachten im August
Dass die Weihnachtszeit dieses Jahr für mich anders ausfallen sollte als in meinen früheren 17 Jahren war natürlich von Vornherein klar gewesen. Kein Plätzchenbacken mit der Familie, kein Wichteln mit Freunden, vor allem keine Minusgrade und Dunkelheit beim Heimkommen. Dass aber wirklich mein komplettes Zeitgefühl so von Wetter und Jahreszeiten verändert werden könnte, das wurde mir erst jetzt klar: Im Sommer hatte ich Berlin verlassen, jetzt aber ist bei mir immer noch Sommer. Die Bäume im Centrehof grünen unverändert, keiner der Vögel, die uns täglich Nachmittagskonzerte bereiten, hat uns für eine Zugreise verlassen. Ich fühle mich tatsächlich manchmal fast so, als wäre seit meiner Ankunft hier die Zeit angehalten, und würde nur in einer Art Pause weiterlaufen. Ein stehengebliebener August, und doch waren wir schon im Dezember. Natürlich war da das Bewusstsein: Heute ist der erste Advent, heute ist der erste Dezember, heute ist Nikolaus. Wahrscheinlich war dieser Kontrast - Sommergefühl gegen Weihnachtsbewusstsein - der Grund dafür, dass ich die ersten beiden Adventswochen unser europäisches Weihnachtsfeeling so sehr vermisste.
Um das ein wenig auszugleichen startete ich schon Ende November mit den Mädchen eine große Weihnachtskartenaktion, die leicht aus den Fugen geriet; die Karten sollten später in Europa verkauft werden. In dieser Zeit hatten wir am Centre dann auch Besuch von drei dänischen Backpackerinnen denen es in ihrer Sehnsucht nach den europäischen Adventstraditionen ähnlich ging, und so improvisierten wir einen Ricepudding nach dänischer Tradition mit übermäßig viel Zimt, spielten Karten bei Kerzenschein und starteten die erste Fröbelsternbastelaktion mit den Mädchen. Mit ihrer Abfahrt verschwand dann aber diese kleine Sehnsucht, und mehr und mehr stellte sich die Weihnachtsstimmung nach hiesiger Tradition ein. Denn eines steht fest: Wenn die Christen auch nur 6% der Bevölkerung Tamil Nadus darstellen, so ist das Ausmaß der Traditionen (besonders was die Deko angeht) doch nicht minder als bei uns in Europa, und fast ist es so als wäre Weihnachten hier kein religiöses Fest mehr, sondern ein kulturelles.
Als Marketingstrategie fingen die Läden in den größeren Städten schon früh an, unter ihr „Happy Diwali“ noch ein „Happy Christmas“, gefolgt von einem „Happy New Year“ zu hängen. An jeder Straßenecke konnte man nun Sterne, Girlanden, Glitzerketten kaufen, worin jeder Haushalt gefühlt sein gesamtes Monatsgehalt investierte. Beim Eingang zum Campus wurde man nunmehr mit einer Reihe bunt leuchtender Sterne zwischen den Palmen empfangen und die Kirche von Nagalapuram war jeden Tag mit einem weiteren blinkenden Lichterkettenelement dotiert. Neben tamilischen Weihnachtsliedern kamen plötzlich auch "Stille Nacht" oder "Hört der Engel helle Lieder" (in tamilischer Sprache und Harmonien eingestimmt) aus den an der Kirche angebrachten Lautsprechern. Jeden Abend öffnete ich ein Tütchen des Adventskalenders, in den ich für jedes Mädchen gedruckte Fotos, Bonbons und nette Briefe gesteckt hatte, die sie sich gegenseitig hatten schreiben sollen.
Und spätestens Mitte Dezember setzte dann auch hier der wohlbekannte Vorbereitungsstress ein, denn schließlich gab es drei „Christmasfunctions“ vorzubereiten: die von der Kirche, die von der Schule, vor allem aber die vom Centre. Auch für mich bedeutete das, immer an drei Orten gleichzeitig zu proben; Gitarre und Blockflöte mit den Trainees, „Actionsongs“ mit den Day Care Centre Kindern (am Lustigsten wurde es, als mir die fabelhafte Idee kam sie alle in einem Lied auf die Bühne zu bringen). Zur Centrefunction bekam zudem jedes Mädchen ein neues Kleid oder Sari, und auch die Mitarbeiter (zu denen ich gezählt wurde) trugen einen einheitlichen „staff saree“. Schöner als die Christmasfunction selbst bleibt mir allerdings der Abend zuvor in Erinnerung: Bis spät in die Nacht wurde von allen gemeinsam das Centre geschmückt, dabei Tänze geübt, Theater geprobt, die letzten Lieder einstudiert. Spätestens beim Stromausfall kam das familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl, das diesen Ort hier so unglaublich besonders macht plötzlich ganz offen zum Ausdruck, es war fast magisch.
Als alle Functions ausgeklungen und die Kinder über die Ferien nach Hause (sie alle haben noch mindestens einen Elternteil oder anderen Verwandten) gefahren waren ging es am 23. abends für Kasthuri akka, Daisy (unsere Köchin) und mich auf ins Dorf, in dem Kasthuri aufgewachsen war und wo wir nun Weihnachten feiern sollten (Vorerst gab es allerdings noch die Jahresenddeadlines abzuarbeiten). Wenn ich mich im Nachhinein auch nicht fühlte, als hätte ich wirklich Weihnachten gefeiert, so waren die beiden Tage dort doch so schön, dass es zumindest das Weihnachten gewesen ist, an das ich mich am besten werde erinnern können. Schon die Ankunft war fast wie in so einem Traum: Nach drei Stunden Fahrt kamen wir in der Nacht im Dorf an, dessen drei Straßen liebevoll mit leuchtenden Weihnachtssternen rechts und links dekoriert waren. Später lernte ich, dass das Dorf aus einem Hindu-Teil und einem christlichen Teil mit je drei Wegen besteht; die Einwohner des christlichen Teils seien alle mehr oder weniger entfernte „relatives“ von Kasthuri. Trotz der späten Uhrzeit wurde noch eifrig der kleine Platz vor der kleinen Kirche geschmückt, und wir unterhielten uns noch lange mit ihren beiden Neffen – zu einer heißen Milch, frisch vom selben Morgen.
Der 24. (hier noch nicht Weihnachten), startete mit einem Besuch mehrerer Häuser im Dorf, im Anschluss ging es in eines der Reisfelder der Familie, das einen eigenen Brunnen mit elektrischer Pumpe besitzt. Stundenlang – man konnte einfach nicht genug davon haben – badeten wir im Becken, wo das Wasser zum Feld durchfließt, wuschen unsere Kleider und amüsierten Kasthuris beide Großneffen (oder amüsierten sie uns?): Jeron und Jeshron, fünf und sieben Jahre alt, die wildesten Kinder des Dorfes. Dass im Anschluss Kasthuris Neffe kam und uns Kokusnüsse von der Palme kletterte erzähle ich wirklich nicht, um irgendwelche Klischees zu bestärken - es war in dem Moment einfach so. Am späten Nachmittag erst kehrten wir von diesem märchenhaften Ort zurück, spielten noch etwas mit den Kindern (davon gibt es in diesem Dorf unglaublich viele) bevor es Abendessen gab. Auf Tamil gibt es ein bestimmtes Wort, das die Aktion beschreibt, viel Essen vorzubereiten und jeden dazu einzuladen: Asanam. So wurde heute das Abendessen von der Kirche organisiert und alle aus dem Dorf – Christen wie Hindus – kamen, um gemeinsam zu essen. Highlight für mich an diesem Abend: Als ich es leid war, immer nur zuzusehen und serviert zu werden ließ ich mir den kiloschweren „Sambar“-Eimer (diese scharfe Gemüsesoße, die es meist zum Essen dazugibt) in die Hand drücken und rannte nunmehr mit den anderen Servierenden durch die Reihen, um jedem der da wollte Sambar auf- und nachzuschenken. Zwar führte meine Unbeholfenheit schnell zu einem erheblichen Sambar-Mangel auf den Bananenblättern von denen meist bei solchen Asanam gegessen wird, dafür bekamen die Menschen Unterhaltung und ich viel Sympathie.
Weihnachten selbst wurde dann am Morgen des 25. gefeiert, um 3:30 Uhr um genau zu sein. Nach dem Gottesdienst (der sich in meinen Augen kaum von den mir gewohnten Sonntagsgottesdiensten in Nagalapuram unterschied) wurde statt Geschenke auszupacken geböllert – und wie. Als die Sonne langsam aufging spielten wir wieder mit den Kindern „Coconut go“, bauten einen Drachen aus Zeitungspapier mit zerdrücktem Reis als Kleber den wir in den Feldern steigen ließen, und – ich durfte sogar zum ersten Mal in meinem Leben eine Kuh melken oho. Doch es sollte noch mehr den Tag so besonders machen: Am Nachmittag war mir nach all dem Essen nach einem Spaziergang, sechs der Dorfjungs, elf, zwölf Jahre alt, begleiteten mich und so landeten wir ganz unverhofft in einem sogenannten „Watertank“: ein riesiges von einem Damm umringtes Steppengelände, das normalerweise zur Regenzeit mit Wasser vollläuft, nun aber aufgrund der diesjährigen Regenknappheit fast leer war. Darin eine Natur wie im Nationalpark - rote Erde, im flachen Wasser weiße Flamingos und ein herrliches Golden Hour Licht. Keine Touristen, stattdessen sechs wilde Jungs als stolze Touriführer. Sie erklärten mir, wie die Krabbenskelette auf den fast staubigen, einst jedoch überfluteten Boden gelangt waren; wo sie, wenn der Wassertank voll war, am liebsten Baden gingen; wozu verschiedene Pflanzen hier und da (Aloe Vera & Co.) alles verwendet werden konnten. Wir kreuzten Ziegen- und eine Bisonherde, auf dem Rückweg beobachteten wir in einem Brunnen (tief) eine Wasserschlange (Juhey). Ein 25. Dezember. Naja.
Am nächsten Morgen verließen wir diesen wunderbaren Ort in aller Frühe, und für mich ging es gleich weiter auf die nächste Reise: mit meinen Mitfreiwilligen in den kleinsten Bundesstaat Indiens. Goa liegt an der westlichen Küste des Landes, war früher eine portugiesische Kolonie, und ist heute vor allem mit mehr Touristen überfüllt, als sonst irgendein Bundesstaat. Trotzdem verbrachten wir eine sehr entspannte Woche, mit einem guten Mix aus Kultur (sehr spontanes Highlight: eine moderne Kunstausstellung südindischer Künstler), Strandleben (untergebracht waren wir im sonnigen Strandort Anjuna) und Handeln lernen (Anjunas Mittwochsflohmarkt zieht jeden in seinen Bann, der auch nur einen Fuß darein setzt). Für mehr Details verweise ich jetzt aber auf die Blogeinträge meiner lieben Mitfreiwilligen, das mit dem Kurzfassen war noch nie mein Ding.
Viel Schönes aus Nagalapuram, in das ich letzte Woche mit einem NachHauseKommGefühl zurückgekehrt bin :) Clara
P.S.: Kleiner Video- und Fotoblog folgt.