Weltweit erlebt
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14 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Gigantische grüne Hügel in einem Meer aus Wolken auf dem Weg nach Independencia. (Foto: EMS/Bühler)
(Foto:EMS/Bühler)
17. März 2017

Ein Lebenszeichen aus Independencia

Naomi

Naomi

Bolivien
wirkt in einem Kulturzentrum mit
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Bienvenidos al Centro Cultural Ayopayamanta (CCA)

Buen día, buen día! Fast scheint es mir so, als gäbe es keine passendere Begrüßung mehr, kombiniert mit einem Nicken und anschliessend einem warmen Lächeln. Einer der unerschütterlichen Bestandteile Zusammenlebens in Independencia, das ich längst schätzen und lieben gelernt habe. Manche europäische Bekanntschaften mögen sich fragen, warum so viele Monate verstreichen, bis ich ein Lebenszeichen von mir gebe. Glaubt mir, diese Verspätung hat ausdrücklich nichts damit zu tun, dass ich meine Wurzeln vor lauter Bolivien vergessen habe. Vielmehr hat sie zum Beispiel damit zu tun, dass mein Internetzugang eingeschränkt – meistens sogar inexistent – ist. Internet bietet sich mir in der nächstgrößten Ortschaft, doch um erst einmal dahin zu gelangen, muss ich sieben Fahrstunden in einem klapprigen alten Bus mit Abfahrtszeiten zwischen 2 und 4 Uhr morgens auf mich nehmen. Endlich in Cochabamba angekommen, sind meine Gedanken meist irgendwo bei den Unmengen verführerischer Essensmöglichkeiten auf der Strasse oder beim Blick auf die riesige Christus-Statue, die über der Stadt prangt oder bei den allerlei Besorgungen, für die Independencia dann doch zu schnucklig ist. Vor allem aber habe ich in den vergangenen Monaten so viel erlebt, erfahren, gesehen, kennengelernt, entdeckt und versucht in mich aufzusaugen, dass mir selten danach war, mögliche Erfahrungen vor meinem Laptop zu versäumen. Gerade auch, weil ich mich beim Schreiben derartiger Texte schwertue. Also, wo soll man da denn am besten anfangen? Alles kann man sowieso nicht erzählen, deshalb fange ich in diesem Eintrag ganz grundsätzlich bei meinem Arbeitsalltag an.

Ja, ich bin in Bolivien, versteckt in Independencia und ja, ich arbeite in einem Kulturzentrum – wobei es ‚arbeiten‘ nicht ganz richtig trifft: Das Centro Cultural Ayopayamanta ermöglicht es mir, verschiedenste Gesichter Boliviens zu erfahren. Vom teilweise so ursprünglichen Leben auf dem Land, über der erquickenden Lebendigkeit, die von Kindern ausgeht, bis zu bolivianischem Essen aus Zutaten frisch vom Acker oder eben der Weide erfahre ich gerade mich selber wieder ganz neu.  So um 5:30 Uhr früh erwacht das Kulturzentrum zum Leben. Zumindest Don Benito, der bereits zu diesen frühen Stunden seinen Arbeitsalltag unten im Radio des Kulturzentrums beginnt. Sein Spezialgebiet ist es, bestens gelaunt zu übertragen, und das auf voller Lautstärke. Die Panflöten in der Begrüssungsmusik des internen Radiosenders Voz de los Andes (die Stimme der Anden) wirken direkt harmlos, denn Benitos fröhliches ‚Buen día, buen día!’ lässt jedes einzelne der vier Stockwerke erzittern. Aber wie schon gesagt, es gehört einfach zum Leben in Independencia dazu :-)

Bevor ich wieder in einen erholsamen Schlaf zurückfalle, lausche ich den magischen Klängen des Quechua, mit dem sich lange vor den Bewohnern Independencias schon das mächtige Volk der Inkas verständigt hat. Quechua dominiert hier übrigens vor allem den Alltag der älteren Generationen, während unter Kindern und Jugendlichen mittlerweile Spanisch überwiegt. Bilingualität ist hier nichts Besonderes, im Nachbardorf gibt es sogar welche, die neben Quechua und Castellano auch noch Aymara sprechen. Im ganzen Departamento de Cochabamba gilt Quechua als meistgesprochene indigene Sprache. Bisher beschränkt sich mein Wortschatz auf einfache Alltagsfloskeln und wichtige Fluchwörter, deren Benutzung zur Bändigung aufmümpfiger Schnösel dienen. In den nächsten Monaten soll aber mehr draus werden.

Jedenfalls komme ich zwei Stunden nach Benitos Einsatz schlaftrunken aus meinem Zimmer. Wie gewohnt ist das ganze Haus schon längst in Bewegung. Das Centro ist das größte Gebäude Independencias, die Dachterrasse gibt den Blick direkt ins Herz wolkenverhangener, grüner Anden frei. Ein großer Teil meines bolivianischen Alltages spielt sich zwischen diesen vier Wänden ab. Gerade auch, weil ich hier nicht nur arbeite, sondern zusammen mit drei weiteren deutschen Freiwilligen, unserer multitalentierten Mitarbeiterin Carmen mit Tochter Mari und einer Handvoll Untermietern wohne. Unsere WG gleicht einer Großfamilie: man isst zusammen, erkundet mit den Kindern die Umgebung, sitzt mit den Erwachsenen in der Sonne und tauscht sich aus und kommt mit seinen Mitfreiwilligen auf lauter verrückte Ideen. Zeitweise schien mir aber vieles zu deutsch. Gott sei Dank sind wir durch unsere Mitarbeiter und durch einige bolivianische Freunde trotzdem viel in Kontakt mit der Kultur, der Sprache und den Ideen der Menschen dieses Landes. Als ganzes Team sitzen wir nach der Arbeit oft gemütlich beim tecito, nehmen Koka- oder anderweitigen Tee ein, zusammen mit Brot aus Vollkornmehl, das morgens, wenn es frisch aus dem Lehmofen kommt, seinen verlockenden Duft im ganzen Dorf verströmt. Weiterer wichtiger Bestandteil sind die Treffs mit unserem Gärtner in den Chicherías zum Feierabendbier. Chicherías sind im Grunde gemütliche Dorfkneipen, in denen die Männer nach der Arbeit auf dem Feld Dart oder anderes spielen und eben Chicha trinken – Maisbier, das für die Region typisch ist und sogar mir als Bierhasserin schmeckt. Am Wochenende wird gekocht – sei es Bolivianisch, Deutsch, Schweizerisch oder gemischt – gewandert, gemeinsam gewaschen, geputzt oder einfach das Leben genossen.

Was meinen Alltag angeht, bringt jeder Tag irgendetwas Neues mit sich. Meistens abhängend von den Launen unseres Chefs oder hinter welcher Tür der Institution ich mich gerade befinde. In erster Linie setzt sich das Zentrum für die Förderung der kulturellen und der regionalen Entwicklung der ländlichen Umgebung ein. So zum Beispiel verbringe ich unter der Woche meine Nachmittage im Bibliothekssaal, wo ich mir von zerzausten Grundschülern stockend aus Fabelheftern vorlesen lasse, oder mich als Mathelehrerin pubertierender Mädels versuche. Wenn ich nicht gerade lerne und lehre, helfe ich den beiden Bibliothekarinnen beim Verleih von Büchern und Schreibmaterialien. Nur wenn Severinos lächelndes, braungebranntes Gesicht hinter den Bücherregalen auftaucht, verlasse ich die Bibliothek, um meinen Chef in seinem Arbeitsalltag zu begleiten. In den Dingen, die wir in dieser Zeit erledigen, bringt mir mein über die Jahre gesammeltes Schulwissen reichlich wenig. Und trotzdem traut uns Severino extrem viel zu. Mit ihm werde ich bei der Installation von Solarpanels oder bei der Reparatur unserer Radioantennen auf dem 4000m hohen Gipfel Acutani zur Handwerkerin. Einen kleinen Eindruck in das Leben eines Müllmannes bekomme ich auf der Müllsammelstelle des Dorfes, wo wir ab und an alle möglichen Hartplastikteile in unseren Jeep stopfen. Später werden jene in Cochabamba zu Rohren recycelt, die zur Verlegung von Kabeln dienen. Auf der Halde stinkt es, viele verranzte Stücke müssen mit blosser Hand angefasst werden, aber angesichts der wachsenden Plastikmüllberge, die in diesem Land produziert werden, mache ich die Arbeit fast gerne. In Severinos Büro wiederum erledigen wir Freiwilligen Übersetzungen, verfassen Spendenanfragen oder kümmern uns um den Emailverkehr mit Deutschland und Österreich. Einer meiner Lieblingsorte ist der ökologische Garten des Zentrums mitsamt seinen Bewohnern; also Hund, Katzen, Hühnern, Schweinen, bis vor Kurzem sogar einem zutraulichen Schaf und ihren beiden herzensguten Besitzern – die gleichzeitig Herr und Frau Gärtner des Zentrums sind. Ab und zu versuche ich mich zwischen Salaten, Kartoffeln und Krautstiel nützlich zu machen. Bis zum heutigen Tag will mir der Gärtner die Arbeit nicht recht zutrauen, da ich eine señorita bin. Aber dem werd’ ich es auf jeden Fall noch zeigen!

Die zweimonatigen Schulferien im Dezember waren arbeitstechnisch noch einmal ganz besonders. Ich war von der üblichen Arbeit in der Bibliothek befreit und sollte stattdessen mit meinen Mitfreiwilligen Freizeitprogramm für die Kinder im Dorf gestalten. So verwandelte sich das Zentrum während drei Tagen die Woche in einen bunten Ort voller lachenden und leider auch schreienden Kindern. Es wurde fleißig gebastelt, beim Zumba tanzen oder Fussballspielen tobten wir uns aus oder lernten ein bisschen Englisch. Am 6. Dezember veranstalteten wir eine Nikolausfeier mit einem verkleideten Lionel, der viele Erdnüsse (und zwar regionale!) und Süßigkeiten mitbrachten. Seitdem glauben die Kinder, Lionels Zwillingsbruder würde als Nikolaus arbeiten und sei ausnahmsweise bis nach Independencia gereist. Zum Abschluss des Programmes verzierten wir mit den Kinder die Wände des Bibliotheksaals mit Unterwasserwelten, Blumen sowie Fussabdrücken. Die Wände sind schön geworden, meine Nerven strapaziert und der Boden an manchen Stellen leicht verkleckert.  Freitag- und Samstagabends organisieren wir zudem Kinderkino. Manchmal sitzt gefühlt das halbe Dorf Popcorn mampfend und Cola trinkend vor der großen Leinwand. Das alles ist jedoch nur ein winziger Zweig des Centro Cultural Ayopayamanta. Zum Beispiel werden im Haus der Sonne – oder auf Quechua eben Inti Wasi – Zimmer und kleine Wohnungen vermietet. Zumindest zu einem Teil ermöglicht dieses Hotel die Selbstfinanzierung des Zentrums, vor allem sollen aber Touristen angelockt werden. Die Institution verfügt über ein best ausgestattetes Nähatelier, in dem Nähkurse angeboten sowie wunderschöne Pullis aus Alpakawolle produziert werden, die unter anderem auch auf deutschen Jahrmärkten zu finden sind.  Bauern aus der Region werden mit Workshops und Kursen zu Obstplantagen oder zur Schädlingsbekämpfung unterstützt. Mehrere Ortschaften in der Umgebung verdanken dem Zentrum Trinkwasser- und Bewässerungssysteme. Schlussendlich versorgt das Radio Voz de los Andes gerade auch abgelegenen Gebiete mit Unterhaltung und aktuellen Nachrichten. Die regionale Entwicklung und die Erhaltung der Traditionen stehen dabei stets im Vordergrund.

Abgesehen von der Arbeit im Kulturzentrum verbringe ich meine Vormittage in einem der beiden Dorfkindergärten als Unterstützung der Kindergärtnerin. Schnell wurde ich zum Spielkameraden übermütiger Kinder und so war ich nach der zwanzigminütigen Pause verschwitzt, dreckig und glücklich. Manche Tage verbrachte ich jedoch Stifte spitzend, müde und gelangweilt an der Seite malender Kinder. Auf eine neue Art und Weise lernte ich, wie sich Unterforderung auf dauer anfühlen und auswirken kann. Seit zwei Wochen ist diese negative, vormittägliche Stimmung eher der Überforderung gewichen. Seitdem unsere Kindergärtnerin kurzfristig die Stelle gewechselt hat, ist die Schulleitung auf verzweifelter Suche nach einer neuen Lehrerin. Bis jemand Neues gefunden ist, wurde meiner Mitfreiwilligen Melina und mir das Amt übgergeben. Die Kinder sind zwischen drei und vier Jahren alt und müssen an erster Stelle ein bisschen beschäftigt, gebändigt und geliebt werden.

Manchmal kann ich es selber nicht glauben, was für einmalige Gelegenheiten sich mir in diesem Land eröffnen! Bolivianische Bergluft in meinen Lungen, frische Erde unter meinen Fingernägeln und Freiheit in der Luft – nun habe ich auch in Bolivien einen Weg in Richtung Glücklichsein gefunden. Ja, ich bin dankbar, jeden Tag. Für die wertvollen Erfahrungen, dankbar, genau hier zu sein, genau jetzt, genau mit diesen Menschen. Die Zeichen stehen also gut und es könnte sogar sein, dass der nächste Bericht früher kommt :-) Uratu kama!, wie man auf Quechua so schön sagt, bis bald!

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Kindergartenkind Zulema als traditionelle Cholita verkleidet. (Foto: EMS/Bühler)
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Typisches Bild eines nachmittäglichen Abenteuers mit Chef Severino. Hier bei der Verwertung einer seiner Kühe. (Foto:EMS/Bühler)
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