Weltweit erlebt
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10 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Die St. Mary's church wird für Weihnachten neu gestrichen (Foto: EMS/Gieseke)
Die St. Mary's church wird für Weihnachten neu gestrichen (Foto: EMS/Gieseke)
21. Dezember 2018

Praise the Lord for he is good.

Miriam

Miriam

Indien
arbeitet in einem Mädchenheim mit
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"Aber ihr feiert ja gar kein Weihnachten, oder?"

Diese Frage wurde mir in letzter Zeit ein paar Mal gestellt. Und es stimmt schon - die meisten Inder sind nicht christlich und feiern das Fest nicht. In meinem Projekt und meinem Umfeld wird Weihnachten aber sehr groß gefeiert. Aber das trifft eben nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung zu. In meinem Bundesstaat Telangana gibt etwa 1% Christen – 85% Hindus, 13% Muslime und 1% andere Religionen.

Was dabei, nicht nur in den Zahlen, sondern im Alltag auffällt: Indienweit gibt es nur sehr wenige Atheisten, nur 0,2%, während diese in Deutschland mit 35% die größte Gruppe bilden. 

Woher kommt dieser Unterschied und wie spiegelt sich das in meinem Alltag wieder?

Ich wohne im St. Mary's Polio Home und schon am Namen kann man ja erkennen, dass es sich um eine christliche Einrichtung handelt. Auch mein Umfeld außerhalb beschränkt sich ziemlich auf Christen, weil ich neue Leute vor allem durch Aktivitäten der Kirche kennenlerne. Anders als in Deutschland bedeutet Christsein hier, dass Zeiten für Gebet und Gott fest in den Tagesablauf eingeplant sind. Das heißt nicht nur, regelmäßig in die Kirche zu gehen, sondern auch Familienandachten zu halten oder sich alleine seine Zeit dafür zu nehmen. Auch bei jeder Art von Feiern, Geburtstagen, Gedenkfeiern oder anderen Treffen wird meistens erst ein kleiner Gottesdienst gehalten.

Und auch im Alltag ist der Glaube einfach wichtig – viele Leute hier sprechen total gerne darüber, danken Gott, wann immer etwas Gutes passiert, beten für einen oder bitten einen darum, für sie oder ihre Familie zu beten. Vor meinen Reisen oder wenn ich krank bin, beten meine Nachbarn zum Beispiel auch für mich – ein total schönes Gefühl, so die guten Wünsche mitzubekommen.

Ich denke, der Glaube ist hier auch wichtiger, weil die Menschen diese emotionale Unterstützung mehr brauchen. Schließlich haben die meisten Menschen keine Krankenversicherung, es gibt kein Arbeitslosengeld, viele junge Leute haben keine sichere Zukunft und wenn du nicht arbeiten kannst, bist du auf Freunde und Familie angewiesen. Bei diesen vielen Unsicherheiten gibt der Glaube einem Konstanz und Stärke und lässt einen neu hoffen. Das könnte ein Grund für die starke Auslebung des Glaubens sein.

Für viele Jugendliche ist die Kirche auch ein Ort, wo sie sich engagieren und treffen können, zum Beispiel in der Sunday School, einer Art Kinderkirche. Ich spiele inzwischen auch beim englischen Gottesdienst mit meinem Horn mit und lerne durch die Jugendgruppe oder die Musiker viele Leute in meinem Alter kennen. Denn das ist der Glaube oder die Kirchenaktivitäten hier auch – ein soziales Band, eine große Gemeinschaft. Die Gemeinschaft motiviert viele Leute auch zu teilen, sich gegenseitig zu helfen – weil wir "Brüder und Schwestern in Jesus" sind, weil wir den gleichen Glauben haben.

Durch Gemeinschaftsbildung gibt es aber immer auch Abgrenzung – diese existiert, innerhalb von Freundes- und Familienkreisen sind oft die allermeisten einer Religion zugehörig. Aber dafür, wie wichtig der Glaube hier ist, ist es wirklich überraschend, wie fließend die Grenzen verlaufen und wie friedlich alle zusammenleben. Auch innerhalb einer Familie kann ein Teil zu einem Hindutempel und ein anderer Teil zur Kirche gehen. Auch die muslimischen Mitarbeiter bei uns kommen öfter zur Kirche mit. Die Köchin des Mädchenheims meinte darüber "All god is one", also dass wir an den gleichen Gott glauben, aber auf unterschiedliche Art. Eine Kirche in Kadapa, einer Stadt in Andra Pradesh ist zum Beispiel ausdrücklich für alle Religionen geöffnet – so haben sie dort einen Stein, bei dem Hindus Kokosnüsse aufschlagen können, was bei ihnen ein Teil der Gottesanbetung ist. Das Kokosnusswasser wird zu den Füßen des Gottesbildes verschüttet, während die Schalen und damit das Fruchtfleisch dem Tempel oder in diesem Fall der Kirche gespendet werden.
Zwar funktioniert das Zusammenleben nicht immer so reibungslos – mit so unterschiedlichen Religionen kann es das gar nicht, glaube ich. Aber trotzdem könnte sich Deutschland ab und zu eine Scheibe von der Toleranz gegenüber anderen Religionen abschneiden.

Aber dazu muss ich sagen, dass ich als Außenstehender die Konflikte gar nicht mitbekommen würde. Und es ist keineswegs immer friedlich zwischen den Religionen. Nicht umsonst gibt es jahrzehntelange Konflikte durch die Teilung von dem hinduistischen Indien und dem muslimischen Pakistan. Auch die BJP (Bharatiya Janata Party), die die Regierung momentan stellt, ist eine nationalkonservative Partei, die den Wunsch, die Kultur Indiens zu erhalten, sehr auf die Religion bezieht und damit Christen und Muslime diskriminiert.
Aber auch von der Seite der Christen, die  ich hier miterlebe, wird zumindest ein bisschen Abstand von der hinduistischen Kultur genommen. Schon in dem Wunsch, sein Kind in einen christlichen Kindergarten zu schicken oder auch darin, dass ich von meiner Einsatzstelle aus lieber keine hinduistischen Festivals besuchen sollte. Ich habe das Gefühl, dass der Hinduismus nicht so ernst genommen wird. Ich glaube, das liegt auch daran, dass es eine polytheistische Religion ist und die Gottesanbetung sehr anders erfolgt als im Christentum. Christlich aufgewachsene Menschen wissen auch oft gar nicht viel über den Hinduismus. Mir wird eher spaßeshalber von ihren Traditionen erzählt nicht als Erklärung einer gleichwertig angesehenen Religion.

Das Thema Mission ist in meinen Kreisen auch sehr präsent. Ich wurde schon oft gefragt, ob das der Grund meines Kommens sei. Viele Menschen wollen, dass sich ihr Christentum mehr ausbreitet, sehen es auch als Aufgabe, nicht-Christen zu Gott zu bringen. Auch ich selbst wurde schon gedrängt, jeden Tag in der Bibel zu lesen und früher aufzustehen, um morgens noch eine Stunde zu beten. Die Mädchen im Mädchenheim haben hier auch eine extrem christliche Erziehung, obwohl viele aus hinduistischen oder muslimischen Familien kommen. Das betrifft nicht nur das prayer zweimal täglich und die Sunday School am Sonntag. Sie dürfen die Feste ihrer eigenen Religion auch nicht wirklich feiern. Im November war beispielsweise das hinduistische Diwali-Fest, das mit Feuerwerk und Lichtern gefeiert wird – die Mädchen durften sich nicht einmal das Feuerwerk anschauen.
Ich habe auch das Gefühl, dass die religiöse Erziehung nicht bedeutet, verschiedene Glaubensvorstellungen kennenzulernen, zu hinterfragen und sich dann selbst bewusst zu werden, an was man glaubt. Der Glaube wird sehr bibelorientiert beigebracht, die Glaubensvorstellung sollte eher so gut wie möglich umgesetzt werden, statt sie zu hinterfragen. Das ist auch etwas, das ich für mich schwierig fände, weil der Glaube schon etwas sehr persönliches und sehr wichtiges ist – das kann man nicht einfach von jemandem kopieren, finde ich.

Zum Teil wird es auch fast schon esoterisch, wenn mir erzählt wird, wie viele Gaben Jesus jemandem geschenkt hätte – zum Beispiel die Gabe von Zukunftsprophezeiung oder einer gemeinsamen Sprache mit Gott. Kann man so seinen Glauben messen und beurteilen? Muss man das? Ich glaube nicht, dass ich meinen Glauben messen muss, auch nicht dadurch, wie viele Stunden ich täglich bete. Bei einem religiösen Treffen, bei dem ich Musik mitgemacht habe wurden auch mehrere Leute, die sich in Ekstase gebetet haben, als Erleuchtete auf die Bühne geholt. Ich persönlich sehe darin keine Erleuchtung, sondern eher eine Hyperventilation durch die starken Emotionen. Das sind Momente, in denen mir persönlich der Glaube zu viel wird, weil ich mich da einfach nicht hineinversetzen kann.

Insgesamt hat  die starke Auslegung auch ein höheres Risiko, Aussagen mit der Religion zu belegen und damit auch ein höheres Risiko, den Glauben für diese Argumentation zu missbrauchen. Zum Beispiel wenn es um die Diskriminierung Homosexueller oder allgemein den Aufbau von Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen, anderen Religionen, geht.  

Ich bin mir selber in meiner Zeit hier auch schon viel sicherer geworden, an was ich eigentlich glaube, schon durch das Hinterfragen, ob ich meine Erlebnisse dazu jetzt gut oder schlecht finde. Religion und Glaube ist immer ein sehr subjektives Thema und ich habe jetzt einfach von meinen Erfahrungen dazu erzählt. Die gründen sich auf die Sachen, die ich hier erlebt habe, Menschen, die ich kennengelernt habe und natürlich mich selbst, meine eigene Erziehung, meine Gedanken. Deswegen ist der ganze Artikel höchst subjektiv und keineswegs als Erklärung des Glaubens in Indien zu verstehen.

Ich hoffe, dass der Einblick für euch interessant war, der Glaube ist etwas, was meinen Alltag hier sehr prägt, weswegen es mir wichtig war, darüber zu schreiben.

Frohe Weihnachtenn und ein gutes neues Jahr schonmal!

Miriam

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Die Jugendgruppe der Kirche - eine Möglichkeit, sich zu treffen und zu engagieren (Foto: EMS/Gieseke)
Die Jugendgruppe der Kirche - eine Möglichkeit, sich zu treffen und zu engagieren (Foto: EMS/Gieseke)
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Prayer im Mädchenheim - zweimal täglich (Foto: EMS/Gieseke)
Prayer im Mädchenheim - zweimal täglich (Foto: EMS/Gieseke)