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10 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Regierungsgebäude in La Paz (Foto: EMS/Bühler)
Regierungsgebäude in La Paz (Foto: EMS/Bühler)
07. August 2017

Kulturelle Besonderheiten

Naomi

Naomi

Bolivien
wirkt in einem Kulturzentrum mit
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Eine rückwärtslaufende Uhr in La Paz und Essen aus der Erde

Anti-Kapitalismus
Das Regierungsgebäude in La Paz scheint auf den ersten Blick ein ganz normales, staatliches Gebäude zu sein, das man so überall auf der Welt finden könnte: riesig, verziert mit verschnörkelten Säulen, einer Kuppel, an der die nationale Flagge angebracht ist. Es steht auf der Plaza Murillo in einer der besseren Gegenden von La Paz. Aus allen Richtungen tönt das Hupen der Eisverkäufer, die sich mit ihren Tiefkühltruhen auf Rädern einen Weg durch die Taubenschwärme auf dem Platz bahnen. Umliegende Strassen bahnen sich ihren Weg ins Zentrum und geben einen vom Smog verschleierten Blick frei auf die unverputzten, halbfertigen Häuser am Rande zu El Alto, dem ursprünglichen Ghetto der Stadt.

Bei meinem ersten Besuch auf der Plaza Murillo sassen mein Gastbruder und ich in der Sonne, essend und die gemütliche Atmosphäre geniessend. Später erst fiel mir auf, dass die Uhr an der Kuppel des Regierungsgebäudes irgendwie merkwürdig aussieht: "Die läuft ja verkehrt herum, was ist das denn?", meinte ich zu Gabriel. Tatsächlich sind die Ziffern in umgekehrter Reihenfolge angebracht, sodass es nach 12 Uhr, 11, dann 10, dann 9, usw. ist. Trotzdem kann man die normale Uhrzeit ablesen, da der Stundenzeiger im Gegenuhrzeigersinn verläuft.
Diese verkehrte Uhr, erklärte man mir, sei nichts anderes als ein Symbol dafür, dass hier die Zeit anders läuft, als im Norden. Die eigene Kultur soll im Zentrum stehen und nicht mehr das, was früher die spanischen Kolonialherren und heute die westlichen Grossmächte für Bolivien und den Rest der Welt vorgeben.
Die Ziffern der Uhr wurden im Juni 2014 unter dem indigenen Präsidenten Evo Morales übermalt. Damit liess die Regierung ein Zeichen setzen, dass in Bolivien eine neue Zeit beginnen soll - eine eigene Zeit geprägt von eigenen Ideen. Es geht darum, sich von der Abhängigkeit von den USA und von Westeuropa zu befreien, sich endgültig zu entkolonialisieren und gegen den Kapitalismus zu wehren.

Erstaunlich ist tatsächlich, wie wenig man in Bolivien von der westlichen Präsenz spürt. Nicht nur auf dem Land, sondern gerade auch in der Grossstadt La Paz, wo cholitas, traditionell gekleidete Frauen mit langen Röcken, zwei Zöpfen und Hut, die Strassen bevölkern. Ein einziges Mal habe ich in einem Minibus oder Taxi, wo ständig Radio läuft, etwas anderes als nationale Musik mit Panflöten und dem gitarrenartigen Charango oder Reggaeton-Beats aus Südamerika gehört. Und da war es Cheri Cheri Lady von Modern Talking. :)
In Independencia auf dem Land schien die Zeit sowieso manchmal stehen geblieben. Marktverkäuferinnen können den ganzen Tag mit ihren Standnachbarinnen plaudern. Es scheint sie nicht zu interessieren, wer dabei am meisten von seinen Karotten loswird. Meine Mitarbeiter blieben auf der Strasse gewöhnlich an jeder Ecke stehen, einfach um jemanden zu grüssen und sich kurz auszutauschen. Es kam nicht darauf an, ob wir es eilig hatten oder mitten in der Arbeit steckten.
Ich finde es so schön wie in Bolivien Kapitalismus und damit einhergehende persönliche Erfolgszwänge eine viel kleinere Rolle spielen. Ist es nicht vielleicht viel gesunder, so zu arbeiten, dass es für ein sorgloses, alltägliches Leben reicht, ohne Stress zu haben und ohne dabei die Mitmenschen zu vergessen?

Essen
In Bolivien habe ich einiges gegessen, von dem ich vorher noch nie gehört habe. Zum Beispiel kam ich in den Genuss von warmem Essen direkt aus dem Erdboden.
Ich lernte p'ampaku im Oktober auf einem Geburtstagsfest im ökologischen Garten des Kulturzentrums in Independencia kennen. Das Besonder(st)e an p'ampaku ist eben, dass alles unter der Erde gekocht wird. Dazu wird im lockeren Boden ein Rechteck ausgehoben - je mehr Essen da rein muss, desto grösser. Dann werden ein paar Holzscheite am Boden des Lochs angezündet, auf denen man grosse Steine erhitzt. Die Steine können die Hitze des Feuers noch lange speichern, auch wenn die Glut längst aus ist. So können verschiedenste Gemüsesorten auf den Steinen ausgelegt werden, ohne dabei zu verbrennen. Am Geburtstag im Oktober brachte ein Gast Erbsen von ihrem eigenen Feld mit, die noch in der Hülse zusammen mit Kartoffeln, Kochbananen, Maniok und Süsskartoffeln ins Loch kamen.

Wie zu fast jedem Gericht in Bolivien gehört auch zu p'ampaku Fleisch dazu. Bei den p'ampakus, die ich miterlebt habe, wurde zugeschnittenes Lamm-, Rind-, Schweine-, oder Hühnerfleisch in verschliessbaren Blechen über das Gemüse gelegt. Erst danach wurde das Loch zugeschüttet und mit Zweigen zugedeckt, damit die Wärme im unterirdischen Ofen nicht verloren geht.

In Independencia wird regelmässig an besonderen Anlässen ein mit viel Aufwand verbundenes p'ampaku vorbereitet. Die Vorbereitungen sind bereits ein Erlebnis für sich und beim Essen zahlt sich die ganze Mühe aus, weil die Erde zu einem intensiven und noch natürlicheren Geschmack beiträgt.

Fast so wichtig wie Fleisch ist in Bolivien Llajwa, eine scharfe Sauce, die durch die Zugabe eines speziellen Krautes einen unverkennbaren Geschmack hat. Um Bolivianer zu zeigen, dass einem ihr Essen schmeckt, muss man sich einfach viel Llajwa schöpfen. :)

Allgemein ist die bolivianische Küche kohlenhydrat- und fleischlastig. Jedoch ist die kulinarische Handhabung von Fleisch in Independencia eine ganz andere als in Europa. Wer Fleisch will, schlachtet meist eines seiner eigenen Tiere - und zwar selbst. Als ich meinem Chef, dem Leiter des Kulturzentrums, beim Ausnehmen seiner Kuh helfen durfte, merkte ich erst, dass da Teile zum Kochen behalten werden, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie essbar, geschweige denn lecker sind. Magen, Kopf, Brust - alles wurde verschenkt, gekocht oder am nächsten Tag auf dem Markt verkauft. Und an dem Wenigen, was wir nicht verwerteten, erfreuten sich die Hunde.
Das Tier bekommt so einen ganz anderen Wert als bei uns, wo nur noch Abbildungen auf der Packung darauf hinweisen, dass die rosafarbenen vakuumierten Happen im Supermarkt ursprünglich von einem Tier stammen.

In Independencia gibt es weder Supermärkte, noch verfügen die Menschen normalerweise über Kühlschränke. Grundnahrungsmittel wie Nudeln und Reis oder Zutaten für Brot kann man in kleinen Trödlerläden kaufen, am Wochenende werden auf dem Markt exotische Früchte und mehr Gemüse aus anderen Teilen Boliviens verkauft. Grundsätzlich lebt jeder von dem, was einem die Natur und der eigene Boden gerade gibt. Es funktioniert: die Menschen essen mindestens so gerne wie bei uns, kochen gut und werfen wenig weg. Independencia ist lebendes Beispiel dafür, dass Lebensmittelversorgung noch ohne internationalen Handel und übergrosses Lebensmittelangebot funktionieren kann.

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Zur allgemeinen und eigenen Belustigung in traditioneller Kleidung aus Cochabamba. (Foto: EMS/Bühler)
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Hmmmm, P'ampaku! (Foto: EMS/Bühler)