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10 Freiwillige weltweit. Täglich neue Eindrücke und Erlebnisse. Kleine und große Herausforderungen. Erfahrungen für das ganze Leben – all das ist das Ökumenische FreiwilligenProgramm der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS)

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Kanyakumari - Südlichste Spitze Indiens (Foto: EMS/Hildenbrandt)
Kanyakumari - Südlichste Spitze Indiens (Foto: EMS/Hildenbrandt)
08. Oktober 2018

Zwischen Schock und Faszination

Sophia

Sophia

Indien
arbeitet in einem Heim für Kinder mit geistiger Behinderung mit
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Was für mich vor nicht allzu langer Zeit noch wie ein Traum schien, ist seit bereits über einem Monat Wirklichkeit, denn so lange bin ich schon hier in Indien, einem Land, welches kaum einen größeren Kontrast zu meiner Heimat Deutschland darstellen könnte. Ein Zehntel meiner Zeit ist somit also schon um, was ich selber kaum glauben kann, da die Tage bis jetzt wie im Flug vergingen und das Einleben in meiner Einsatzstelle länger dauert, als ich es vorher gedacht habe. Dies liegt allerdings daran, dass ich das Elwin Centre, zu dem die „CSI School for the Mentally Retarded“ neben einer Gehörlosenschule gehört, nach bereits anderthalb Wochen für 12 Tage verlassen habe. Grund dafür war erst ein zweitägiger Staff-Trip und anschließende Schulferien, weshalb auch die Kinder abwesend waren und zu ihren Familien nach Hause konnten. Das bedeutete für mich schon meine erste Reise mit meinen Mitfreiwilligen Jule aus Nagalapuram und Lea aus Salem. Trotz alledem helfen mir die lieben Menschen, die mich hier jeden Tag umgeben, diese Eingewöhnungsphase um einiges zu erleichtern. Ich habe bereits viele neue Freunde gefunden und fühle mich schon jetzt als Teil dieser besonderen Familie, die sich aus Lehrern, Betreuern, Köchinnen und natürlich den Kindern zusammensetzt, wodurch sich das Zurückkehren nach meiner Reise auch ein wenig wie „Nachhause-Kommen“ anfühlte und ich mich sehr auf das Wiedersehen mit allen freute. Von meiner Einsatzstelle werde ich euch allerdings ein wenig später berichten, wenn ich meinen festen Tagesablauf gefunden habe und mich hier etwas besser auskenne. Thema dieses Blogeintrages soll ein anderes sein:

 

Ankommen in einem für mich komplett unbekannten Land. Neues Essen. Fremde Menschen. Ungewöhnliche Kulturen. Noch unverständliche Lebensweisen. Merkwürdig wirkende Gewohnheiten. Unendlich viele Eindrücke. Und gleichzeitig ein Kopf voller Fragen, voller Chaos und irgendwie auch voller Vorurteile, die darauf warten, bestätigt oder widerlegt zu werden. In den ersten Wochen meines Aufenthalts war ich permanent hin- und hergerissen zwischen Schock und Faszination, zwischen Trauer und Freude, zwischen fremd fühlen und wohl fühlen, zwischen „Warum nochmal Indien?“ und „Ich will hier nicht mehr weg!“ - genau von diesen teilweise extremen Gegensätzen, die ich bis jetzt hier erleben durfte und meinen persönlichen ersten Eindrücken soll dieser Eintrag handeln.

Wer ein Land mit enormen Kontrasten besuchen möchte, der ist in Indien auf jeden Fall an der richtigen Stelle. Dies bemerkte ich bereits während unserer Einführungswoche in den Städten Chennai und Bangalore: Gegenüber unserer Unterkunft befand sich zunächst einmal eine riesige Mall, die genau so auch hätte in Deutschland stehen können. Als wir den Sicherheitscheck am Eingang passiert haben, erwarteten uns Geschäfte wie H&M, Levis und Adidas, in denen die gleiche Kleidung zu gleichen Preisen verkauft wurde, wie in meiner Heimat. Außerdem schlenderten wir durch einen gigantischen Supermarkt, in dem es neben 20 verschiedenen Sorten Reis auch Produkte wie Pringles-Chips und Nutella gibt. Während einer Fahrt mit der Rikscha entdeckten wir ein Viertel mit den Marken Louis Vuitton und Diesel und wunderschönen Glashochhäusern, was so gar nicht an das Indien erinnert, welches häufig im Fernsehen gezeigt wird.

 

Dem gegenüber stehen die unzähligen Straßenläden, welche zu klein zum Betreten sind und die in Dörfern aber auch in Städten die Straßen säumen. Einladend wirken diese häufig nicht, sondern eher chaotisch. Wenn man sich aber darauf einlässt, so bemerkt man schnell, dass man dort viel mehr kaufen kann, als man vielleicht denken würde: Das Sortiment geht von frischem Tee und Gebäck, über Kekse, Getränke, Seifen, Putzmittel, Besen und Wischmopps, bis hin zu frischem Obst. Doch diese Gegensätze werden auch an vielen anderen Stellen, wie den Lebensstandards der Menschen und der Natur beziehungsweise der Landschaft, deutlich.

 

Eine meiner vielen Erfahrungen ist das Saree-Kaufen, was für mich persönlich sehr gewöhnungsbedürftig ist. Mit „selbst durch die Regale schauen“ ist hier meistens nicht viel. Oftmals ist es so, dass man vor einem Tresen steht und einem einfach hundert verschiedene Sarees auf den Tisch gelegt werden. Wenn man Glück hat, dann ist ein Schöner dabei, wenn man Pech hat, eben nicht, denn wenn ich dem Verkäufer versuche zu erklären, welches Design oder welche Farbe ich suche, dann wird das in ziemlich vielen Fällen einfach ignoriert. Gab es dann ein Geschäft, in dem ich die Möglichkeit hatte, selber zu schauen, dann wurde ich von unzähligen Verkäufern auf Schritt und Tritt verfolgt und beobachtet. Sobald ich mir ein Produkt genauer angeschaut habe, wurde ich gefragt, ob ich es kaufen möchte. Es ist mir und meinen beiden Mitfreiwilligen Lea und Jule auch schon passiert, dass jeder Verkäufer einen anderen Saree anschleppte, was mich persönlich leicht überforderte. Als ich dann gefragt habe, welcher Stoff für die Bluse dabei wäre, wurde das 5 Meter lange Tuch komplett geöffnet und von mehreren Verkäufern vor uns gehalten, wofür die Hälfte des Raumes eingenommen wurde. Spätestens da konnten wir uns das Lachen nicht mehr verkneifen. Die Angestellten des Geschäftes gaben wirklich alles, um uns Sarees zu verkaufen.

Da ich gerade Kleidung thematisiere: Eine weitere Sache die ich neben den wunderschönen und bunten Sarees total liebe, ist die Herstellung der Kleidung. Manchmal kauft man bereits geschneiderte Teile. Dass diese passen, ist allerdings selten der Fall. Oftmals ist es dann nämlich die Größe XL oder größer. Anschließend wird das Gekaufte zum Schneider gebracht und passend genäht. Meistens besorgt man sich jedoch nur das Material für die Kleidung: Beim Saree ist der Stoff für die Bluse dabei, bei Chudidars für Oberteil, Schal und Hose im passenden Design. Auch das wird dann beim Schneider nach eigenen Wünschen genäht, wodurch jedes Kleidungsstück zu einem Unikat wird. So stirbt auch dieses beeindruckende Handwerk nicht aus, was bei uns in Deutschland ja leider zunehmend der Fall ist.

 

Eine andere Sache, die mich sehr beeindruckt, ist der Glaube der Menschen, der mir bisher noch nie so stark in einem Land begegnet ist, wie hier. Zunächst einmal kenne ich keine einzige Person, die atheistisch ist. Da meine Einsatzstelle überwiegend christlich ist (es gibt aber auch Angestellte und einige Kinder, die dem Hinduismus angehören), findet jeden Morgen und jeden Abend ein Prayer für die Staff statt. Die Kinder beten auch, aber getrennt von den Angestellten. Der Prayer besteht größtenteils aus Singen, was ich persönlich sehr positiv empfinde und was das Ganze auflockert. Vor circa zwei Wochen hat es hier in der Einsatzstelle ziemlich gestürmt und direkt neben der Schule und den Hostels fielen mehrere große Bäume um. Ich hätte mich wahrscheinlich zu Tode geärgert, vor allem in einem solchen Land, in dem es erst schon wegen der Trockenheit schwierig ist, Bäume so groß wachsen zu lassen, wie mir Mr. Barnabas, der Correspondent unserer Schule, berichtet hat. Doch anstatt zu fluchen, sind die Menschen froh darüber, dass es endlich wieder geregnet hat, dass nichts Schlimmeres passiert ist, keiner verletzt ist und die Gebäude nicht beschädigt wurden, wofür sie Gott danken. Auch wenn ich mich einfach so mit jemandem unterhalte, bemerke ich schnell, wie wichtig Glaube hier ist und wie viel Kraft er den Menschen gibt. Bei anderen Religionen wie dem Hinduismus ist mir die Stärke des Glaubens vor allem während meiner Reise in den Schulferien aufgefallen. So viele Leute richten ihr Leben danach aus, unternehmen Reisen zu wichtigen Pilgerstätten und praktizieren Rituale, wie das Abrasieren der Haare (auch Frauen), was Glück für den Beginn eines neuen Lebensabschnittes bringen soll.

 

Auch die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der Menschen, egal ob jung oder alt, bin ich von Deutschland nicht gewohnt. Da ich Tamil (Sprache in meinem Staat) leider noch nicht lesen kann, stehe ich bei langen und kurzen Bus- oder Zugfahrten immer wieder aufs Neue vor der Herausforderung, in den richtigen Bus beziehungsweise Zug zu steigen (Beschriftung in englischen Buchstaben ist selten der Fall), was bei einer so großen Zahl an öffentlichen Verkehrsmitteln auch leicht schiefgehen kann. Doch egal, wen ich bis jetzt gefragt habe, wurde mir trotz Sprachbarriere, da viele kein Englisch sprechen, immer mit einem Lächeln im Gesicht weitergeholfen. Es ist auch nicht selten, dass ich bis zum richtigen Bus gebracht wurde, oder die Person mit mir gemeinsam auf den Bus gewartet hat, um die Bettler von mir fernzuhalten und um sicherzugehen, dass ich richtig einsteige. Selbst wenn ich nur irgendwo stehe und etwas hilflos wirke oder in einem überfüllten Bus tatsächlich etwas hilflos bin, kommt häufig eine ortskundige Person auf mich zu und bietet mir ihre Hilfe an.

 

Eine meiner Schockerfahrungen war, zu sehen, wie groß hier der Drang zum Weiß-Sein ist. Mindestens 90% der Werbeanzeigen stellen Kinder und Erwachsene dar, die entweder ganz und gar nicht wie Menschen dieses Landes aussehen, sondern eher wie Nord-Europäer, oder deren Haut so auf dem Bild bearbeitet wurde, dass nur noch Gesichtszüge und Haarfarbe auf ihre Herkunft schließen lassen. In Geschäften kann man außerdem Cremes zum Bleichen der Haut oder Shampoos zum Bleichen der Haare erwerben, was anscheinend sogar sehr gefragt zu sein scheint. Des Weiteren wird mir gefühlt 50 mal am Tag von bekannten aber auch fremden Menschen gesagt, wie schön sie meine Hautfarbe finden und ich ihnen doch bitte etwas davon abgeben soll.

Während unserer Reise ist es meinen Mitfreiwilligen und mir auch schon so ergangen, dass wir aufgrund unseres Erscheinungsbildes die vordersten Plätze mit der besten Sicht in einer Bahn bekommen haben, oder dass wir an einer Schlange von einem Tempeldiener vorbeigeführt wurden und nicht wirklich warten mussten, wie die Anderen. Eigentlich sollte man sich über solche Dinge freuen, uns war es jedoch etwas unangenehm, da das erst recht die Blicke auf uns zog, was so schon genug der Fall ist, und den Menschen sicherlich ein wenig das Gefühl gibt, weniger wert zu sein, was natürlich nicht so ist! Da bemerkt man schon, woher dieser Drang, weiß zu sein, kommt...

Auf der anderen Seite ist es aber so, dass man als weiße Person oft höhere Preise bezahlen soll, zum Beispiel beim Eintritt von Sehenswürdigkeiten, bei Rikschafahrten oder an Straßengeschäften, die keine Fixpreise haben. Aber irgendwie ist das auch verständlich, denn alleine mit meiner Anwesenheit zeige ich den Menschen, dass meine Möglichkeiten in ein anderes Land zu reisen, weitaus besser sind, als ihre. Nur weniger als eine Handvoll der unzähligen Leute, die ich hier kennenlernen durfte, konnte mir stolz berichten, bereits in einem anderen Land gewesen zu sein. Selbst wenn die finanziellen Mittel vorhanden sind, ist es wohl extrem schwierig für die Menschen, eine Genehmigung zu bekommen, um das Land für eine bestimmte Zeit zu verlassen, und wenn es nur ein Urlaub ist.

Aufgrund der Hautfarbe fällt man hier natürlich leicht auf und auch indische Kleidung kann die Herkunft nicht vor anderen Menschen verbergen. Dadurch wird man dann ziemlich viel angestarrt, womit ich mich wohl einfach abfinden muss. Als ich mit Jule und Lea in den Ferien in Kanyakumari unterwegs war, erreichte dieses Phänomen aber ein ganz neues Level. Da gehörte auffälliges mit-dem-Finger-auf-uns-zeigen noch zu den weniger schlimmen Dingen. Ständig wollten die Leute Selfies mit uns machen und teilweise wurden Fotos gemacht, ohne vorher zu fragen. Wir fühlten uns wirklich wie eine Attraktion, da die Menschen uns irgendwie mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben, als dem Rock Memorial, für welches sie eigentlich gekommen sind und welches auch wir uns anschauen wollten. Der Höhepunkt war dann erreicht, als wir gemeinsam im Schatten saßen, uns über das Memorial belesen haben und plötzlich ein fremdes Baby auf meinem Schoß saß, von dem ich zu Beginn nicht wusste, wo es herkam. Nachdem ich mich kurz umgeschaut hatte, bemerkte ich die dazugehörigen Eltern, die schon dabei waren, Fotos zu schießen. Auch andere Familien kamen sofort, als sie das bemerkt haben und stellten ihre Kinder, die teilweise gar keine Lust hatten, neben uns und begannen, so viele Fotos zu machen, wie es ihnen nur möglich war. Das ging uns auf Dauer schon ziemlich auf die Nerven und die Kinder taten uns etwas leid.

 

Zum Schluss möchte ich noch kurz auf eine Frage eingehen, die mir gefühlt täglich von Freunden und Familienmitgliedern gestellt wird: „Wie kommst du eigentlich mit der Sprache zurecht? Sprichst du die ganze Zeit Englisch?“. Um ehrlich zu sein, stellt die Sprache im Moment noch mein größtes Problem dar, da keines der Kinder Englisch spricht beziehungsweise versteht und auch bei den Staff nur vereinzelt Englischkenntnisse vorhanden sind. Dadurch besteht die hauptsächliche Kommunikation aus Zeichensprache mit Händen und Füßen. Ich versuche jedoch, mir nach und nach ein wenig Tamil anzueignen, was aber gar nicht so einfach ist, da die Sprache und auch die Schrift keinerlei Gemeinsamkeiten mit Deutsch oder Englisch hat. Die erste Frage und die dazugehörigen Antworten, die ich gelernt habe, waren „Sabdia?“ („Hast du schon gegessen?“), „Sabeten“ („Ja, ich habe schon gegessen.“) und „Sabelä.“ („Nein, ich habe noch nicht gegessen.“). Auf den ersten Blick kommt einem das vielleicht etwas komisch vor, aber dafür gibt es einen guten Grund: Wenn man sich irgendwo begegnet, ist das nämlich die erste Frage, die einem gestellt wird, nicht wie bei uns „Wie geht es dir?“. Oftmals geschieht das sogar ohne weitere Begrüßung. Deshalb bekomme ich diese Fragen auch gefühlte 100 Mal am Tag gestellt und muss dementsprechend auch darauf antworten.

 

Das alles war nur ein Bruchteil der Erfahrungen, die ich bis jetzt gemacht habe und in den folgenden Wochen und Monaten werden sicherlich noch unzählig viele dazu kommen. All diese Dinge, egal ob positiv oder negativ, verhelfen mir dazu, dieses unbekannte Land besser kennenzulernen und vor allem besser zu verstehen. Ich bin gespannt darauf, was mich noch erwartet und freue mich darauf, diese Erlebnisse hier mit euch teilen zu können!

 

Bis zum nächsten Mal!

Eure Sophia

 

P.S.: Falls ihr euch für die Einführungswoche interessiert, die ich mit meinen Mitfreiwilligen in Chennai und in Bangalore verbracht habe, dann schaut doch einfach mal bei den anderen Indien-Blogs rein, da die Anderen darüber bereits tolle Beiträge verfasst haben! (:

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Chaotische Vielfalt - Einer von unzähligen Straßenläden (Foto: EMS/Hildenbrandt)
Chaotische Vielfalt - Einer von unzähligen Straßenläden (Foto: EMS/Hildenbrandt)
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Hindu-Pilgerstätte: Murugan-Tempel Palani (Foto: EMS/Hildenbrandt)
Hindu-Pilgerstätte: Murugan-Tempel Palani (Foto: EMS/Hildenbrandt)